Hattingen. 2010 haben Experten aus Verwaltung, Kultur, Kirche, Vereinen und viele mehr für Hattingen in die Zukunft geschaut. Wir machen den Realitäts-Check
Wie sieht Hattingen im Jahr 2020 aus? Vor zehn Jahren haben 16 Hattinger Experten für unterschiedlichste Bereiche, von der medizinischen Versorgung bis zu den Vereinen, von der Senioren- und Jugendarbeit bis zur Wirtschaft, in die Zukunft geblickt. So nah oder entfernt waren die Prognosen von der Realität:
Stadtfinanzen
Die damalige Bürgermeisterin Dagmar Goch ging davon aus, dass Hattingen 2020 die Schuldenmarke von 80 Millionen Euro unterschritten hat.
Situation heute: Die Kassenkredite der Stadt Hattingen belaufen sich auf etwa 135 Millionen Euro. Wird die Übertragung des Kanalnetzes an den Ruhrverband in Kürze abgeschlossen, ist die Kommune auf einen Schlag 110 Millionen Euro Schulden los. Hoffnung machen auch die Ankündigungen von Bund und Land, die Städte zu entlasten.
Medizinische Versorgung
Hattingens Einwohner
In den vergangenen Jahren ist Hattingen erst geschrumpft, dann aber wieder gewachsen. Zählte die Stadt 2010 noch 56.085 Einwohner, waren es 2013 fast 150 weniger. Zuletzt (Stand 31. Dezember 2018) waren 56.192 Einwohner in Hattingen registriert.
Allerdings geht der Trend nach unten, wie ein Blick weiter zurück zeigt. So lebten zur Jahrtausendwende noch 60.436 Menschen in Hattingen. Den Höchststand gab es 1990 mit 61.129 Einwohnern.
Dr. Helfried Waleczek, damals Ärztlicher Direktor des EvK, ging davon aus, dass es 2020 „mehr Spezialisten und einen Mangel an Hausärzten gibt“.
Situation heute: Noch ist Hattingen mit Hausärzten gut versorgt. Aber ein Mangel droht, weil viele der Mediziner älter als 55 Jahre sind. Auch mit Fachärzten ist die Stadt nach Einschätzung der Kassenärztlichen Vereinigung gut versorgt. Die Krankenhäuser der Stadt haben sich spezialisiert und wollen Fachärzte halten. Aber: Außerhalb der Öffnungszeiten von Arztpraxen und Apotheken müssen Hattinger weitere Wege in Kauf nehmen.
Kirche
Der damalige Pfarrer Winfried Langendonk sagte, Kirche müsse sich öffnen, um wieder näher an die Menschen zu kommen.
Situation heute: Die Pfarrei verliert Mitglieder und geht auf die Menschen zu – zum Beispiel mit Gottesdiensten an ungewöhnlichen Orten und anderen Aktionen. Weil sich die Pfarrei in einer personellen Notlage befindet, dürfen derzeit mit Ausnahmegenehmigung in zwei Gemeinden Laien die Kommunion austeilen. Um Geld zu sparen, müssen die Gemeinden entscheiden, welche Kirchen oder Gemeindehäuser sie aufgeben.
Senioren
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Abgesenkte Bürgersteige, gute Verkehrsanbindungen, mehr Service – das wünschte sich Inge Berger vom Seniorentreff Kick.
Situation heute: Den Seniorentreff Kick gibt es nicht mehr, weil sich niemand fand, der nach Inge Berger die Leitung übernehmen wollte. Vor seiner Auflösung stieß der Treff aber noch Aktionen an: Stufen wurden für eine bessere Sichtbarkeit markiert, mit Schildern wird unter dem Stichwort „Rollkultur“ für gegenseitige Hilfe geworben. Im Nahverkehr wurden Taktungen ausgedünnt. Die Armutskonferenz will Armut und Einsamkeit im Alter vorbeugen.
Kultur
Der Blankensteiner Künstler Egon Stratmann hielt es für wichtig, ein breites künstlerisches Angebot zu etablieren.
Situation heute: Blankenstein strahlt mit kulturellen Initiativen, wie der Kleinen Affäre, dem Forstmanns und dem Butterbrotmarkt, in die Stadt aus. Weil das Alte Rathaus gesperrt ist, braucht der Kunstverein eine neue Bleibe. Das Industriemuseum stellt sich mit Ausstellungen und Veranstaltungen breit auf. Kunstwerke sind im öffentlichen Raum dazugekommen: das Weiltor, die Schmelzer von Egon Stratmann, die Wandkunst von Innerfields und bald weitere Eisenmänner.
Schule
Elke Neumann, Leiterin der Gesamtschule, ging davon aus, dass 2020 die Schulen eng miteinander verzahnt sind.
Situation heute: Die Schulen bieten, zum Beispiel an den Gymnasien übergreifende Kurse an. Noch unklar ist, wie es mit der Schulentwicklungsplanung weitergeht. Ob es beim beschlossenen Umzug der Realschule nach Holthausen bleibt, scheint derzeit offen. Denn durch das Zurück zu G9 brauchen die Gymnasien künftig mehr Platz. Noch belegt das Berufskolleg die Räume. Dringenden Platzbedarf gibt es auch beim Offenen Ganztag.
Tierschutz
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Mehr Arbeit, aber geringere finanzielle Mittel erwartete Sylvia Becker vom Katzenschutzbund.
Situation heute: Der Katzenschutz feiert einen Erfolg als der Ennepe-Ruhr-Kreis die Chip- und Kastrationspflicht einführt. Das Tierheim bittet unterdessen um Spenden: Ein neues Kleintierhaus ist nötig. Tierhalter aus Hattingen müssen bei Notfällen außerhalb der Praxisöffnungszeiten weiter fahren, denn immer mehr Tierärzte können keinen Nacht-Notdienst mehr anbieten.
Wald
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Stadtförster Thomas Jansen blickte gespannt darauf, wie sich die Kyrill-Flächen bis 2020 entwickeln – und die Populationen von Borkenkäfer und Wildschwein.
Situation heute: Nach Kyrill fegte unter anderem Sturm Ela über die Wälder. Zuletzt hat der Wald vor allem mit der langanhaltenden Dürre in zwei Jahren in Folge zu kämpfen. Der Borkenkäfer breitet sich unterdessen aus und gefährdet die Fichten. Die Zahl der Wildunfälle hat zugenommen. Wildschweine sind durch die Afrikanischen Schweinepest bedroht.
Arbeitsmarkt
Manfred Gosker vom HAZ (Hattingen Arbeit+Zukunft) erwartete, dass es mehr verhaltensauffällige Jugendliche gibt und viele Firmen keine Auszubildenden mehr finden.
Situation heute: Vor allem Handwerksbetriebe kämpfen mit Fachkräftemangel. Zuletzt wurden mehr Lehrstellen gemeldet als zuvor. Trotz offener Ausbildungsstellen gibt es aber unversorgte Jugendliche. Bewerber seien teils nicht ausbildungsfähig, klagen Handwerker. Das HAZ stärkt junge Erwachsene mit Sozialprojekten. Bei der Arbeitslosenquote liegt Hattingen inzwischen unter fünf Prozent. Auch Langzeitarbeitslose werden vermehrt vermittelt.
Sportvereine
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An Kindern und Senioren müssen sich Sportvereine ausrichten, meinte der inzwischen verstorbene Wolfgang Streckert, damals Vorsitzender der SG Welper. Schwierig sei es, Menschen ins Ehrenamt zu holen.
Situation heute: Ehrenamtliche für die Arbeit zu gewinnen, ist ein wachsendes Problem für alle Vereine. Die Sportvereine werben für sich mit neuen Aktionen, wie dem Sportkarussell an Grundschulen oder der Aktion „Sport im Park“. Ältere haben in Hattingen vor allem ihre Begeisterung für Boule entdeckt. Dafür entstanden zahlreiche Bahnen.
Stadtteile
Die damalige Ortsvorsteherin Sabine Radtke (Bredenscheid-Stüter) appellierte, dass die Stadtteile nicht auf der Strecke bleiben dürfen.
Situation heute: Die Stadtteile sind aktiv. Vielerorts gestalten Gruppen und Vereine das Leben im Stadtteil – zum Beispiel in Bredenscheid, Welper, Niederbonsfeld und Blankenstein. Aber die Stadtteile müssen auch immer wieder um Angebote kämpfen – sei es beim Schwimmbad in Niederwenigern oder ohne Erfolg bei der Nahversorgung im Oberwinzerfeld.
Jugend
In der Jugendarbeit werde es immer wichtiger, Sponsoren für Projekte zu gewinnen, sagte Matthias Kriese vom CVJM. „Nicht jeder Träger wird mehr alles anbieten.“
Situation heute: Die Jugendarbeit verändert sich. Weil Kinder und Jugendliche durch die zunehmende Ganztagsbetreuung eingespannt sind, arbeiten Jugendeinrichtungen enger mit Schulen zusammen. Ohne große Sponsoren sind Angebote wie der Ferienspaß nicht zu stemmen. Ideen tragen auch die Jugendlichen selbst heran und arbeiten an deren Umsetzung mit.
Wohnen
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Weg vom Standard, hin zu individuellen Lösungen – so könnte laut Immobilienmakler Lothar G. Stalter der Wohnstandort Hattingen gesichert werden.
Situation heute: Über fehlen in Hattingen Wohnungen. Deshalb sucht die Stadt Bauland. Anstehende Projekte bieten oft seniorengerechtes Wohnen – auch in alternativen Wohnformen, wie Wohngemeinschaften. Investoren kämpfen unterdessen mit den Wartezeiten bei der Bauverwaltung. Mit der Neuauflage des Regionalplans will Hattingen verschiedene Flächen als Siedlungsbereiche ausweisen.
Wirtschaft
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„Wir machen einen Fehler, wenn wir uns nur als Wohnstadt und Erlebnisraum definieren“, sagte Wirtschaftsförderer Martin Serres. Der Faktor Arbeitsplätze werde bis 2020 immer wichtiger.
Situation heute: Nach langem Ringen bleibt die Reha-Klinik. Auch neue Arbeitgeber haben sich in Hattingen angesiedelt (Thiemeyer, EK, Ruhr Inn etc.). Dennoch pendeln viele Hattinger zum Arbeiten in andere Städte. Es gibt Probleme, Gewerbeflächen zu vermarkten. Firmen werden durch hohe Abgaben abgeschreckt. Durch eine Kooperation mit der IHK und Hochschule Bochum soll der Fachkräftemangel bekämpft werden.
Suchthilfe
Peter Dresia vom Café Sprungbrett, will die Suchtarbeit noch stärker auf Betroffene zuschneiden.
Situation heute: Das Café Sprungbrett kann weiterhin niederschwellige Angebote für Suchtkranke machen. Dafür gibt es mehr finanzielle Unterstützung. Mehr Personal bekam durch eine Förderung auch die Suchtberatung der Caritas. In den Mittelpunkt rückt das Thema Mediensucht.
Kommunalreform
Thomas Röthig prophezeite: „Die Stadt Hattingen wird im Jahr 2020 nicht mehr existieren.“ Er erwartet eine Kommunalreform – spätestens 2018.
Situation heute: Die Stadt Hattingen gibt es noch. Allerdings setzt man verstärkt auf interkommunale Zusammenarbeit. So haben Hattingen und Gevelsberg einen gemeinsamen Rechnungsprüfungsverbund. Die Personalabrechnungen für die Mitarbeiter der Stadt Hattingen übernimmt Bochum. Auch mit der Stadt Witten arbeitet Hattingen zusammen – bei E-Akten. Bürgermeister Glaser will die interkommunale Zusammenarbeit weiter ausbauen.