Siegerland. Im Jahr 2023 war Redakteur Florian Adam mehr als einmal fassungslos. Zehn persönliche Topthemen, von denen immerhin manche aber auch Mut machen.
Erschütternd, ernüchternd, erstaunlich: Redakteur Florian Adam über zehn Themen, die ihn 2023 aus teils sehr unterschiedlichen Gründen besonders beschäftigt haben – und darüber hinaus noch beschäftigen werden.
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1. „Systemsprenger“. Sympathien, das liegt auf der Hand, weckt so ein Begriff nicht. Im konkreten Fall geht es um Wohnungslose, die nicht in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden können, weil sie aufgrund ihres Verhaltens in einer solch beengten Situation regelmäßig in Auseinandersetzungen mit anderen Bewohnern geraten. Die Stadt Siegen möchte für acht dieser Menschen Einzel-Wohncontainer auf einem Schotterplatz neben dem Leimbachstadion errichten, doch dagegen wehren sich Anwohnerinnen und Anwohner aus der näheren und weiteren Umgebung massiv und gründeten eine Bürgerinitiative gegen das Vorhaben. Der Tenor des Protestes auf eine kurze Formel gebracht: „Wir wollen die hier nicht.“ Es gibt Ängste vor Konflikten, vor negativen Auswirkungen auf das Erscheinungsbild des Umfelds, vor Lärm. Dass die Stadt Lösungen in Form von Sicherheitsdiensten in Aussicht stellt und außerdem mit den Containern extra eine Wohnform schafft, in der die Zielgruppe sich mit höherer Wahrscheinlichkeit angemessen ins Quartier einfügen kann, glättet die Wogen nicht.
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Eigentlich sollten die Container im Herbst bereits errichtet werden, doch der Cyberangriff auf die Kommunen bremste auch hier den Ablauf. Die Stadt ist sich ihrer Sache aber sicher. Die Bürgerinitiative versucht derweil, die Baugenehmigung anzufechten. Wie auch immer es 2024 weitergeht: Das Problem ist, dass ein solches Projekt wohl nicht nur im Leimbachtal, sondern überall auf Widerstand stoßen würde (was zuvor in Geisweid bereits dazu führte, dass eine Containerlösung nahe des dortigen Freibads ad acta gelegt wurde). Offiziell bietet unsere Gesellschaft zwar Platz für Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich den allgemein gängigen Konventionen anzupassen – aber doch bitte nicht vor der eigenen Haustür, sondern vor der anderer Leute! Nachvollziehbar? Mag sein. Aber auch bitter.
2. Denkmäler. Henner und Frieder stehen in Siegen in 1A-Lage, doch ein Denkmal für die hart arbeitenden Frauen der heimischen Wirtschaftsgeschichte soll es nicht einmal in der hintersten Ecke geben. An der Stadt liegt‘s nicht: Die Verwaltung hatte auf Grundlage eines Bürgerinnenantrags vorgeschlagen, ein Denkmal für Haubergsfrauen und/oder „Erzengel“ zu prüfen. Doch ausgerechnet die SPD (stand die nicht mal für die Rechte von Arbeitern, Arbeiterinnen und die Gleichstellung???) spuckte Gift und Galle. Solche Denkmäler seien nicht zeitgemäß. Sagen wir es mal so: Ich komme oft mehrmals am Tag an Henner und Frieder vorbei und sehe, wie interessiert und positiv viele Menschen auf die beiden Figuren reagieren. Was ist daran nicht zeitgemäß? Die SPD hätte zur Ehrung schuftender Frauen lieber Bilder oder Tafeln in öffentlichen Gebäuden – was kaum jemand sehen würde, denn man geht nun einmal oft durch die Stadt, aber nur selten ins Rathaus. Die CDU schwenkte auf einen solchen Kurs ein, der Denkmal-Vorschlag wurde abgelehnt. Jetzt können Generationen von Kindern, die durch Siegen laufen, sich weiterhin fast nur Denkmäler für Männer ansehen – und müssen den Eindruck gewinnen, Frauen seien irgendwie nicht so wichtig. Klassischer Fall von „Chance mit Füßen getreten“.
3. Herrengarten. Ein großartiger, prominenter Standort für die Frauen-Denkmäler wäre sicherlich der Bürgerpark Herrengarten gewesen. Trost: Der wird auch so sehr schön. Im Sommer rückten die Bagger an, seitdem laufen die Arbeiten zur Errichtung der Grünanlage an Siegens Neuen Ufern. Mitte 2024 soll alles fertig sein, und der Blick auf die Pläne und den Fortschritt auf dem Gelände legt nahe: Es wird eines der Dinge, auf die man sich im kommenden Jahr echt freuen kann.
4. Stadtjubiläum. Wo wir gerade bei „Vorfreude“ sind: Siegen feiert 2024 sein 800-jähriges Bestehen. Das Stadtfest Ende August/Anfang September fällt deshalb größer aus als üblich, außerdem gibt es das ganze Jahr über Veranstaltungen. Nach der ersten öffentlichen Programmvorstellung vor zwei Monaten wurden allerdings kritische Stimmen laut, dass kaum Angebote für junge Leute geplant seien. Also: Ich für meinen Teil finde das Programm attraktiv. Aber ich bin auch 47. Vermutlich werden die Stadt und die übrigen Akteurinnen und Akteure da noch nachbessern.
5. Klimawandel. Im Pilotprojekt „Burbacher Bürgerwald“ können Bürgerinnen und Bürger spenden, um die Aufforstung einer vom Borkenkäfer verwüsteten Fläche in Holzhausen zu finanzieren. Das Schöne daran ist, dass die Menschen sehen können, wo ihr Geld zum Einsatz kommt und was sich daraus über die kommenden Jahre und Jahrzehnte entwickelt. Beim Ortstermin im Sommer stellte ich aber auch wieder fest, dass sich die Frage, ob es den Klimawandel gibt, Fachleuten an der Basis gar nicht stellt: Förster etwa sehen von morgens bis abends, dass es so ist, und richten sich in ihrer Arbeit schon seit Langem darauf ein. Nach Gesprächen mit Leuten aus der Praxis frage ich mich oft, wieso sich in der (weltweiten) Klimapolitik trotzdem so wenig tut. Das wird uns alles noch entsetzlich um die Ohren fliegen.
6. Fachkräftemangel. Einerseits ist Deutschland wegen der demografischen Entwicklung auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen, andererseits verschwinden viele dieser Arbeitskräfte schnell wieder, weil sie sich hier nicht wohlfühlen. In internationalen Beliebtheitsrankings schmiert Deutschland regelmäßig ab, Zugezogene erleben die Gesellschaft oft als kühl und verschlossen. Einen besonderen Ansatz verfolgt deshalb die Internationale Pflegeschule des Kreises in Zusammenarbeit mit dem Bildungsinstitut für Gesundheitsberufe (Bigs) am Wellersberg, der DRK-Kinderklinik, dem St. Marien-Krankenhaus und dem Klinikum Siegen als dessen Trägern sowie weiteren Partnern. 23 junge Leute aus Vietnam kamen im April für die Pflege-Ausbildung nach Siegen, wobei diese vier statt drei Jahre dauert. Vor allem in der Anfangsphase wird nämlich zusätzliches Augenmerk darauf gerichtet, die Kandidatinnen und Kandidatenmit dem deutschen Alltag vertraut zu machen und ihnen bei der Integration zu helfen. Ein Vorgehen, das Schule machen dürfte und sollte: Wir brauchen dringend die vielbeschworene „Willkommenskultur“ und müssen aktiv auf die Menschen zugehen, wenn wir für Fachkräfte aus dem Ausland attraktiv sein wollen. Auch wenn man eigentlich meinen sollte, dass unabhängig von eigenen Bedürfnissen allein schon die Höflichkeit eine gewisse Offenheit gebieten müsste.
7. Siegen als Marke. Attraktiv sein allein nützt nichts, wenn es keiner mitkriegt. Um Menschen innerhalb wie außerhalb Siegens mit lokalen Stärken überzeugen zu können, wollte das Stadtmarketing herausfinden, was diese Stärken überhaupt sind. In Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Hamburg gab es deshalb Workshops und eine Online-Befragung, innerhalb derer die Bürgerinnen und Bürger ihre Einschätzungen abgeben sollten. Mehr als 1000 Menschen machten mit. Ergebnis: Siegens große Pluspunkte sind Wald und Geschichte im Stadtbild, die Natur des Umlands, eine starke Wirtschaft, die Uni und das Freizeit- und Kulturangebot. Bei den Orten ernten die Oberstadt und das Obere Schloss mit seinem Park sowie das Siegufer besonders viel Zustimmung. Auf Basis der Ergebnisse will das Stadtmarketing nun eine Vermarktungsstrategie entwickeln, die dank der großen Bürgerbeteiligung auf einem validen Stimmungsbild statt auf gefühlten Wahrheiten basiert. Tatsächlich war die Resonanz bemerkenswert: Mehr als 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmerinnen sind angesichts eines Online-Fragebogens, dessen Ausfüllen im Schnitt 20 bis 30 Minuten in Anspruch nimmt, ein Zeichen dafür, dass den Menschen hier die Stadt Siegen durchaus wichtig ist.
8. Lipödem. Die Welt ließe sich mit wenig Mühe zu einem viel besseren Ort machen, wenn die Menschen einfach freundlicher zueinander wären. Dass sie es oft nicht sind, wurde mir auf erschütternde Weise einmal mehr mit aller Deutlichkeit bewusst, als mir im September Anna-Lena Drescher von ihren Erfahrungen erzählte. Sie leidet an einem Lipödem, also einer Fettverteilungsstörung, bei der sich Fettgewebe vor allem in den Beinen und Armen einlagert. Das ist schmerzhaft, geht mit vielen Einschränkungen einher – und ist eine Krankheit, bei der Betroffene sich regelmäßig dämliche Sprüche und Beleidigungen anhören müssen. Ein Fremder habe sie einmal auf einem Parkplatz angepöbelt, sie wäre „doch zu fett zum Autofahren“. Auch Journalisten sind manchmal fassungslos. Umso bewundernswerter, dass eine junge Frau den Mut hat, offen über diese Krankheit zu sprechen und darüber aufzuklären. Menschen, die unter gesundheitlichen Problemen leiden, für diese Probleme auch noch anzufeinden, ist echt schäbig.
9. Dauerparker. Im Mai hat das Klinikum Siegen einen Citroën abschleppen lassen. Das an sich wäre keine Position im Jahresrückblick wert – wenn das Ding zuvor nicht mindestens 14 Monate unbewegt im Parkhaus gestanden hätte. Wer den Kleinwagen mit französischem Kennzeichen dort abgestellt hat und warum dieser nicht mehr abgeholt wurde, ist nach wie vor unbekannt. Der Datenschutz machte die Sache kompliziert: Da keine Straftat vorlag, konnte die Polizei nichts unternehmen. Die französische Botschaft gab erst nach einigen Monaten Informationen zu einem möglichen Halter heraus, doch auf Kontaktversuche erfolgte keine Reaktion. Einfach Entfernen ging aber auch nicht, weil das augenscheinlich zunächst intakte Fahrzeug dem Krankenhaus nicht gehörte. Zum Abschleppen entschied sich das Klinikum schließlich, als das Innere des Autos zu schimmeln begann und die Befürchtung bestand, dass mittelfristig giftige und umweltschädliche Flüssigkeiten hätten austreten können. Hätte derlei Unbill nicht gedroht, vielleicht stünde der Citroën heute noch im Parkhaus. Übrigens: Eine Abholung wäre für den Halter oder die Halterin nicht ganz billig gewesen. Nach den mindestens 14 Monaten wären mehr als 5200 Euro Parkgebühren fällig geworden.
10. Technik der Zukunft. Das Siegener Start-up eleQtron arbeitet an der Entwicklung von Quanten-Computern und gewährte der Redaktion im November Einblick ins Thema. Es ist furchtbar kompliziert, aber dafür wird die Technik ungeheuer leistungsfähig sein, heutige Computer bei Weitem übertreffen und Dinge ermöglichen, die wir uns bisher kaum vorstellen können. Anfang bis Mitte der 2030er wird die Technik zur Verfügung stehen, schätzt Jan Henrik Leisse, einer der drei Gründer und Geschäftsführer von eleQtron. Geforscht und entwickelt wird auf diesem Gebiet weltweit, das Siegener Start-up konkurriert mit Unternehmen wie IBM und Google. Die Aussichten eines so großen technischen Schritts nach vorne in absehbarer Zeit wecken Hoffnungen. Doch irgendwie, das muss ich eingestehen, auch ein paar Ängste.
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