Siegen. Was ist schlimmer als verlieren...? Die Schlagzeile ist 25 Jahre alt. Wir erklären hier, warum man heute stattdessen von Siegen lernt.

Erste Schlagzeile: „Was ist schlimmer als verlieren? Siegen!“ Zweite Schlagzeile: „Von Siegen lernen – eine kleine Großstadt hat den Mut, sich selbst neu zu erfinden.“ Die erste steht über dem Artikel des in Siegen aufgewachsenen Autors Hanjo Seissler, der am 3. August 1996 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien. Die zweite überschreibt die Reportage des Stern-Reporters Matthias Bolsinger, abgedruckt im Stern vom 20. Mai 2021.

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„Bei den meisten Einwohnern und Händlern, alteingesessenen und neuen, spürt man: die Lust auf die Zukunft ist größer als die Angst davor“, heißt es gegen Ende der Stern-Reportage. „Es ist zum Weinen“, lauten die letzten Worte im Magazin der Süddeutschen, 25 Jahre zuvor. „Es hat eine gewisse Tradition in Siegen, dass Reporter die Stadt besuchen und dann berichten, wie grausam sie sei“, weiß der Stern – man kann die Siegen-Verrisse auch heute ganz schnell nachlesen. Aber warum funktionieren sie nicht mehr? Wie bringt man die Stimmung zum Umschlagen, vom Weinen zur Zuversicht?

Anfang der 1960er Jahre gibt es die Siegplatte noch nicht – eine Flaniermeile sind die Ufer, an denen Autos entlangfahren und parken, allerdings auch nicht.
Anfang der 1960er Jahre gibt es die Siegplatte noch nicht – eine Flaniermeile sind die Ufer, an denen Autos entlangfahren und parken, allerdings auch nicht. © WR | privat /Schreiber

Damals

Steffen Mues, Bürgermeister der Stadt Siegen seit 2007, ist in Siegen groß geworden. „Ich habe auch als Kind die schönen Seiten Siegens kennengelernt“, erzählt der heute 56-Jährige, „aber natürlich habe ich auch mitbekommen, wie schlecht über Siegen gesprochen wird.“ Steffen Mues braucht nicht lange, um vieles davon zu bestätigen: „Ich bin auch an dieser hässlichen Siegplatte vorbeigegangen. Ich habe gesehen, wie unambitioniert renoviert wurde. Kneipen für junge Leute konnte man an zwei, drei Händen abzählen. Für Jugendliche gab es hier zumindest auf den ersten Blick keine große Perspektive. Ich habe miterlebt, wie ein Großteil meiner Mitschüler gesagt hat, ich will hier eigentlich weg.“

„Sie haben die Sieg mit einem eierschalenfarbenen, überdimensionierten Schuhkarton, den sie Kaufhaus nennen, gedeckelt. Batsch, oben drüber. Henner und Frieder stehen immerhin noch auf der jetzt völlig schmucklosen Brücke. Aber: eingepfercht, haben sie ihre Würde, ihren Stolz verloren.“ (Süddeutsche, 1996)

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Die Siegplatte

Die Siegplatte, glaubt Steffen Mues, war ein Symbol. „Ein Symbol der Hässlichkeit.“ Parkplatz für elf Monate im Jahr, Weihnachtsmarkt im Dezember. Die Möglichkeit, im Jahr 2012 die Betonüberkragung zu entfernen und dem Fluss mitten in der Stadt neue Ufer zu geben, „war eine Chance, die man beim Schopf greifen musste“. Und das hat alles geändert? „Hässliche Flecken findet man in jeder Stadt“, antwortet Steffen Mues, „aber in Siegen wurden sie gesucht.“

„Die Stadt mit dem vielleicht unglücklichsten Image der Republik.“ (Stern, 2021)

Wurden. Der Bürgermeister und die von ihm geleitete Verwaltung („Alle haben mitgezogen – es entstand Aufbruchstimmung“) zündeten ein Feuerwerk von Impulsen, das die Sicht auf die Stadt verändern sollte: die Abrissparty, die Baustellenführungen, die Baustellenbüros, „und zu jedem Bauabschnitt ein neues Fest“. Öffentlichkeitsarbeit und Informationspolitik verwandeln den Abbruch einer Betonruine in eine Geschichte, die erzählt, wie Siegen an seine neuen Ufer kommt: eine Stadterneuerungsgeschichte von der Kölner Straße über das Untere Schloss bis zum Bahnhof, die ihre Fortsetzungen mit „Rund um dem Siegberg“ und dem Schlosspark und mit „Wissen verbindet Siegen“ und dem Uni-Umzug findet. Eine Geschichte, die so oft erzählt wird, dass sie jeder Siegener nacherzählen kann. Die funktioniert, weil sie sichtbar mit – gebauten – Fakten belegt wird.

So hat der Maler Jakob Scheiner um 1850 auf Sieg, Martinikirche und Unteres Schloss geblickt – auf den ersten Blick ein Idyll, das tatsächlich ziemlich unwirtlich gewesen sein dürfte.
So hat der Maler Jakob Scheiner um 1850 auf Sieg, Martinikirche und Unteres Schloss geblickt – auf den ersten Blick ein Idyll, das tatsächlich ziemlich unwirtlich gewesen sein dürfte. © WP | Repro: Horstgünter Siemon

„Das hätte auch nach hinten losgehen können“, überlegt Steffen Mues, „wenn die Nörgler die Oberhand bekommen hätten.“ Keine Parkplätze mehr, und so. In der entscheidenden Phase haben aber alle mitgemacht: Politik, Geschäftsleute, Anwohner. Zur richtigen Zeit kam Stadtbaurat Michael Stojan ins Amt. „Er hat es geschafft, den Leuten die Augen für die Stadt zu öffnen“, sagte Mues. Das war Arbeit, denn manches Bild ist tief eingebrannt: Er selbst zum Beispiel habe die Hindenburgstraße so lange für „grau und dunkelgrau“ gehalten, bis der Stadtbaurat ihn auf die längst erneuerten Fassaden aufmerksam gemacht habe. „Offensichtlich setzen sich negative Ansichten viel stärker fest, als dass die schleichende Veränderung zum Positiven wahrgenommen wird.“

Die Enge des Tals, die Rigorosität der einstmals herrschenden Nassauer, die alle Erzwerker bei Androhung von Strafen gegen Leib und Leben hier fest hielten, weil sie den goldenen Finger beim Gewinnen und Veredeln von Erz hatten, und die stets ins Feld geführte beckmesserische Religiosität gaben und geben Siegen auch das Bild, dass sich Fremden vermittelt.“ (Süddeutsche, 1996)

Zu neuen Ufern

Einmal in Gang gekommen, ist der Stimmungsumschwung nicht mehr aufzuhalten: Die Siegener haben längst auch Lust, den Stolz auf ihre Stadt mit Gästen zu teilen. Steffen Mues führt regelmäßig Abitur-Jahrgänge bei ihren Jubiläumstreffen durch die Stadt. „Die, die hiergeblieben sind, haben den Wunsch, den anderen zu zeigen, wie Siegen sich verändert hat. Und die sind begeistert und beeindruckt.“ Mittlerweile gute Botschafter sind auch die Studierenden. Klar, räumt der Bürgermeister ein, Siegen sei nicht die erste Wahl, wenn es auch Freiburg, Bonn oder Münster hätte sein können. Doch die Ankommenden hätten es jetzt nicht mehr eilig mit dem Abschiednehmen. „Wenn man geht, hat man die Stadt lieb gewonnen. Auch da hat sich was gewandelt.“

„Die abgrundtief abscheuliche Flanierzeile, die Kölner Straße. Diese Baugemeinheit aus Kunststoff, Eternit, Eloxal und Reklameschriftzügen.“ (Süddeutsche, 1996)

2016 übrigens ist Hanjo Seissler wieder nach Siegen gekommen, zum ersten Stadtfest an den neuen Ufern. Der Autor, der sich nach dem Erscheinen der „Verlieren“-Artikels der Diskussion mit empörten Siegenern gestellt hat, sei angetan gewesen von den Veränderungen, erinnert sich Steffen Mues. Der Artikel sei „natürlich ein Schock“ gewesen, resümiert der Bürgermeister, „aber ich glaube, dass das einigen die Augen geöffnet hat.“ Autor und Fotograf der Stern-Reportage, die wie an de Perlenschnur Neugründer wie Bruno Puddu mit seiner Aperitivo-Bar oder Hauke Hebel und Jona Bellebaum mit ihren „Frittenglück“ und Alteingesessene wie den Optikermeister Heinjochen Fuchs aufreihen, weinen am Ende übrigens nicht. Sie schnaufen, weil sie glauben, „Deutschlands steilste Einkaufsstraße“ entdeckt zu haben. Sie „werden wieder mehr Sport machen“, versprechen sie.

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