Siegerland. Was bleibt von 2023? Steffen Schwab hat zehn Themen ausgesucht, bei denen die Meinungen auseinandergehen. Manchmal heftig.

Hier sind die zehn Themen, die Steffen Schwab in diesem Jahr besonders beschäftigt haben. Dass manche davon auch schon 2022 vorkamen, mag für ihre Bedeutung sprechen. Oder dafür, dass sie einfach (zu ) viel Zeit brauchen.

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1. Hilchenbach

Sie sind immer noch da, die Neonazis in der Dammstraße. Prozesse werden geführt, mal gewinnt die Stadt, mal verbuchen die rechtsextremistische Partei und ihre Funktionäre Erfolge. Inzwischen konzentriert sich die Auseinandersetzung darauf, wem das Haus überhaupt gehört. Dem Parteifunktionär, der einen Kaufvertrag unterschrieben hat, das Eigentum aber nicht ins Grundbuch eintragen ließ. Oder der Stadt, die das Haus ebenfalls gekauft hat, um Geflüchtete darin wohnen zu lassen. Beeindruckend ist, wie die Menschen in der Stadt mit der verfassungsfeindlichen Gruppierung umgehen. Wie sie nicht müde werden, Protest zu organisieren und die Aufmerksamkeit des Umlandes lebendig halten, Solidarität von den anderen Kommunen im Kreis auch nachdrücklich einfordern: Auch in diesem Jahr gab es zwei große Demonstrationen in der Stadt. Wobei die Hilchenbacher es nicht dabei bewenden lassen, Protest auszudrücken. Sie machen den eigenen Entwurf einer offenen, Vielfalt respektierenden Stadtgesellschaft an vielen Stellen sichtbar. Jugendarbeit mit einem queeren Schwerpunkt gibt es sonst allenfalls noch in Siegen, das ehrenamtliche Kultur- und Sozialcafé Herzstück ist einmalig – um einmal nur zwei Beispiele zu nennen.

Wie geht es 2024 weiter? Der Weg ist lang und beschwerlich. Und weil Justitia bei diesem Hilchenbacher Thema ihrer sprichwörtlichen Blindheit besondere Ehre macht, sind Rückschläge nicht ausgeschlossen.

2. Luise

Zwei Mädchen, zwölf und 13 Jahre alt, töten ihre zwölfjährige Mitschülerin Luise. Am 12. März wird das tags zuvor als vermisst gemeldete Mädchen in einem Waldstück bei Hohenhain tot aufgefunden. Die Täterinnenschaft ist schnell geklärt. Freudenberg ist in Schockstarre, trauert. Ganz Deutschland erfährt von der Tragödie, der Schmerz wird niemals Entlastung erfahren. Weil die Täterinnen nicht strafmündig sind und nicht zur Verantwortung gezogen werden, wird es keine öffentliche Aufklärung darüber geben, was zwischen den drei Mädchen geschehen ist. Leistung vor allem des Jugendamtes wird es sein, den Täterinnen mit ihrer Schuld ein Weiterleben zu ermöglichen. Tiefster Respekt gebührt der Familie von Luise, die die Stadtgesellschaft an ihrer Trauer hat teilhaben lassen. Beeindruckend, wie Kirche, Stadt und Schule sich schützend um die vielen Mitbetroffenen gestellt haben, sie gegen die reflexhaft einsetzende, von Fassungslosigkeit getriebene mediale Zudringlichkeit abgeschirmt und trotzdem öffentliche Teilnahme ermöglicht haben.

Wie geht es 2024 weiter? Niemand kann sicher sein, dass Ähnliches nicht wieder passiert. Indem man den Blick von den Abgründen abwendet, verschwinden die Abgründe nicht.

3. Schulen

Am Ende kam der neue Pisa-Schock. Weniger 15-Jährige denn je können gut lesen, Texte verstehen, sich ausdrücken. Neben den Naturwissenschaften wird auch Mathematik zum Problemfach – kein Wunder, wenn schon die Texte der Aufgaben nicht mehr verstanden werden. Die Schulen sind rappelvoll, viele Gebäude in sanierungsreifem Zustand, die Kosten laufen davon. In Siegen ist die Jung-Stilling-Schule fertig geworden. Aber der Umzug der Spandauer Schule auf den Häusling wird zum Jahrzehnt-Projekt, die Diesterwegschule wird neu geplant, in Geisweid die Albert-Schweitzer-Schule. Wem jetzt noch etwas Neues einfällt, kann sich das für die 2030er Jahre vormerken, früher wird das in Siegen nichts. Woanders sieht das nicht anders aus. Netphen zum Beispiel muss außer der Erweiterung des Gymnasiums zwei Grundschulen auf Vordermann bringen und wird dafür locker 20 bis 30 Millionen Euro aufzubringen haben. In Kreuztal drängt die Erweiterung des Schulzentrums – die Pläne dafür sind, wegen der damit verbundenen Debatte um den Wiederaufbau der Stadthalle, nebulöser denn je, von den Kosten ganz zu schweigen. Überall müssen Grundschulen erweitert werden, weil ab 2026 der Rechtsanspruch auf offenen Ganztag kommen soll. Zu spaßen sein wird damit nicht: Den Rechtsanspruch auf Kita-Plätze klagen Eltern woanders mittlerweile mit Erfolg ein. Am 1. März entscheiden in Siegen dann auch noch die Bürger: Real- und Hauptschulen sollen bleiben. Die Entscheidung der Stadtpolitik, sich auf Gesamtschulen und Gymnasien zu konzentrieren, ist damit vorerst gekippt.

Wie geht es 2024 weiter? Die Zeit rennt davon – wer jetzt zur Schule geht, wird die Schulzeit auch mit Erinnerungen an Baustellen und Provisorien verbinden.

4. Bürokratie

Es ist schon faszinierend, wie der Apparat sein Eigenleben behauptet. In Hilchenbach bleibt der Erweiterungsbau der Florenburggrundschule unvollendet, weil ein Baustoff aus dem Ausland verwendet wird, den nach dem Willen der Kreisverwaltung erst einmal die Materialprüfanstalt Leipzig (und keine andere) unter die Lupe nehmen soll. In Nenkersdorf kann ein neues Feuerwehrgerätehaus immer noch nicht gebaut werden, weil man an einem möglichen Hochwasser der Sieg herumrechnet – und das, nachdem doch schon einem vom Aussterben bedrohten Schmetterling mit viel Mühe ein neues Zuhause verschafft wurde. Die Geschichte wird, bis das Haus steht, böse gerechnet 20 Jahre gedauert haben. Selbst ein einfacher Geh- und Radweg in Dreis-Tiefenbach – das Musterprojekt „Sieg verbindet“ auf dem alten Kleinbahndamm - braucht nun schon fünf Jahre Vorlauf. Um es eine Nummer größer zu machen: Die A-45-Talbrücke Büschergrund wird erst vier Jahre später als geplant neu gebaut werden können, nachdem das Oberverwaltungsgericht den Straßenplanern einen Strich durch die Rechnung mit einem abgekürzten Verfahren gemacht hat.

Wie geht es 2024 weiter? Zu all dem passt, dass die 21 neuen Stellen, die 2024 bei der Kreisverwaltung eingerichtet werden sollen, zu einem großen Teil für Genehmigungsverfahren bestimmt sind; auch ein „Verfahrenslotse“ wird gebraucht.

5. Energiewende

Man mag keine Windparks, keine Photovoltaikanlagen auf Freiflächen, keine Stromleitungen. Der Befund, dass in Siegen-Wittgenstein das Potenzial an erneuerbaren Energien nicht ausgeschöpft wird, hat allmählich Konsequenzen. Kreisweit sind inzwischen Anträge für weit mehr als hundert Windräder in der Pipeline, befeuert nicht etwa durch kommunales Umdenken, sondern durch gesetzliche Eingriffe, die den Städten und Gemeinden ein ganzes Stück Planungshoheit wegnehmen – obwohl die sich einem geregelten Ausbau gar nicht in den Weg gestellt hätten, wenn sie nicht durch immer neue politische Entscheidungen von Bund und Land und durch Gerichtsurteile daran gehindert worden wären. Auch die neue Höchstspannungs-Stromleitung durch das Siegerland hätte längst gebaut sein können, wenn Netzbetreiber Amprion und Bezirksregierung sich auf Alternativen eingelassen hätten – so kommt es zur Kraftprobe mit Stadt Kreuztal und Bürgerinitiative, die am Ende vom Bundesverwaltungsgericht entschieden wird. Immerhin: Die Siegener Versorgungsbetriebe konnten ihren Solarpark in Gosenbach bauen, ein weiterer Investor plant für die Eiserfelder Schlackenhalde.

Wie geht es 2024 weiter? Endlich schneller.

6. Einkaufen

Im Oberzentrum Siegen wird gefeiert: Die City-Galerie, der die Schuld am Niedergang des Einzelhandels in der Oberstadt nachgesagt wird, wird 25 Jahre alt. Und getrauert: Karstadt, schon öfter tot gesagt und zuletzt unter dem Namen „Galeria“ auf dem Markt, macht endgültig zu. Siegen, mit seiner Kaukraftbindung immer noch an der Spitze der deutschen Großstädte, wird wohl der Ort sein, wo zuerst die neuen Wege für Leben in den Innenstädten ausprobiert werden – einkaufen allein lockt halt nicht mehr. Nach und nach füllen neue Gastro-Konzepte, Freizeit-, Kultur- und Sportanbieter die Leerstände. Im Siegener Umland gehen die Uhren anders: Da ist es immer noch wichtig, den Menschen zumindest ein Nahversorgungs-Grundangebot zu sichern. Zum Beispiel mit einem vergrößerten Norma-Discountmarkt im Netphener Einkaufszentrum, auch wenn die Planung dort gerade schon wieder stecken zu bleiben scheint. Und Hilchenbach freut sich auf eine Bäckerei mit Café in der Nähe des neu gestalteten Marktplatzes. Sowie über einen Grundstücksdeal, der die Rückkehr von Aldi ermöglicht, wenn auch vielleicht erst 2030.

Wie geht es 2024 weiter? Not macht erfinderisch – in der Szene ist Bewegung.

7. Nahverkehr

Auf der einen Seite steht die Suche nach neuen Konzepten: Busse sollen in Zukunft mit Elektro- oder Wasserstoffantrieb fahren, auch bei der Bahn wird über Alternativen zum Dieseltriebwagen nachgedacht. Busse werden auch in Zukunft die Hauptstrecken gut bedienen. Stundentakt mit leeren Bussen auf dem Land werden sich die Verkehrsunternehmen nicht mehr leisten können. „On demand“ ist das neue Schlagwort, also eine möglichst intelligente Fortentwicklung des ungeliebten Taxibusses, und autonomes Fahren, also der Kleinbus ohne Fahrer, der die Anbindung an die nächste Hauptlinie herstellt. Auf der anderen Seite ist das Elend der Gegenwart: Busse, die nicht fahren, weil es keine Fahrer gibt oder weil sie in Baustellenstaus stecken bleiben. Und Züge, die nicht fahren, weil, wie im Fall der Siegstrecke, die Strecke wochenlang unbefahrbar bleibt oder weil gebaut wird. Das Deutschlandticket macht vor allem die Züge voller und das Bahnfahren noch unattraktiver, weil auch die erhöhte Auslastung an Verspätungen schuld ist. Für Schülerinnen und Schüler entstehen neue Ungerechtigkeiten, für die Verkehrsunternehmen Finanzierungsrisiken – weil für sie nun 49 Euro der höchste Preis für eine Monatskarte sind, die bisher locker über 100 Euro gekostet hat.

Wie geht es 2024 weiter? Auf Straße und Schiene wird sich nicht viel ändern. Hinter den Kulissen aber wird an dem großen Umbruch gearbeitet, den Fahrgäste spätestens ab 2028 zu spüren bekommen.

8. Route 57

Einen Schritt weiter geht es mit der Südumgehung Kreuztal. Nachdem das Oberverwaltungsgericht den bisherigen Planfeststellungsbeschluss für rechtswidrig erklärt hat, gibt es nun eine überarbeitete Planung, gegen die zumindest der Reit- und Fahrverein Kindelsberg nicht mehr klagen wird. Nach und nach veröffentlicht der Landesbetrieb Straßen NRW weitere Einzelheiten zur weiteren Planung im Ferndorftal, die möglichen Trassenführungen und ihre Alternativen werden sichtbar. Im Frühjahr bekommt Grünen-Bundestagsabgeordnete Laura Kraft heftige Reaktionen, als sie zum Spaziergang durchs Mattenbachtal einlädt und sich mit ihrem Widerspruch zur Südumgehung auf die Seite von Bürgerinitiativen und Umweltverbänden stellt. Zum Jahresende stellt die Industrie- und Handelskammer (IHK) die Zustimmung zu einem „Nationalpark Rothaargebirge“ in Aussicht, wenn im Gegenzug der Bau der Ortsumgehungskette Kreuztal-Schameder garantiert wird.

Wie geht es 2024 weiter? Schwer vorstellbar, dass der Bund für dieses Vorhaben, dessen Kosten mittlerweile auf fast eine halbe Milliarde Euro geschätzt werden, jemals wieder Geld übrig haben wird.

9. Geschichte

Es ist tatsächlich passiert. Siegen hat eine Europastraße, eine Edith-Langner-Straße … Namen wie Graf Luckner und Hindenburg sind aus dem Stadtplan verschwunden. Nach Vorarbeit eines Arbeitskreises hatte der Rat bereits im Oktober 2022 die Umbenennung von sechs Straßen beschlossen. Noch einmal bis in den Sommer 2023 dauerte dann die Beratungsrunde durch Bezirksausschüsse, Kultur- und Hauptausschuss, um die neuen Namen festzulegen, entweder Flurbezeichnungen oder Benennungen nach bedeutenden Frauen. Die Vorschläge kamen aus den Ratsfraktionen, Diskussionen darüber wurden vermieden. Um eine Umbenennung der Stöckerstraße zu vermeiden, wurde sie kurzerhand umgewidmet: Sie steht nicht mehr für den Juden hassenden Reichstagsabgeordneten Adolf Stoecker, sondern für die Frauenrechtlerin Helene Stöcker.

Wie geht es 2024 weiter? Burbach, Freudenberg, Kreuztal und Hilchenbach haben ebenfalls Straßen, die reif für die Umbenennung sind. Burbach hat sich bereits auf den Weg gemacht.

10. Zukunft

Zwei Beispiele für modernes Landleben: Hilchenbach macht Theater, Kino, Jugendcafé und Sporthalle zu Teilen eines neuen „Kulturellen Marktplatzes Dahlbruch“. Nach Jahren der Diskussion über Finanzierung und Bauausführung nimmt die Diskussion über das Innenleben des neuen Zentrum Fahrt auf. Arbeitsgruppen und ein Beirat der künftigen Nutzer machen Vorschläge, wie aus dem stadteigenen Kulturellen Marktplatz ein neuartiger Begegnungs- und Veranstaltungsort wird. Ein paar Nummern kleiner, dafür aber schneller ist das Q in Deuz, die von einem Verein getragene Qulturwerkstatt, die gerade den dritten Regionale-Stern bekommen hat. Das „Q“ ist „Dritter Ort“, der Kulturelle Marktplatz will es werden. Gemeinsam ist beiden, dass sie offen für alle sind, das Konsumieren ermöglichen, zugleich aber auch zum Selbst- und Mitmachen einladen.

Wie geht es 2024 weiter? Der Kulturelle Marktplatz wird eröffnet. Dann wird anschaulich, was mit den Konzepten gemeint ist, die derzeit noch – vor allem in Netphen – auf Unverständnis stoßen.

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