Siegen. Anna-Lena Drescher hat ein Lipödem – eine Krankheit, für die sie von anderen oft beschimpft und verletzt wird. Sie spricht offen darüber.

Dumme Sprüche und verletzende Kommentare begleiten Anna-Lena Drescher seit der Kindheit. „Mein Leben lang wurde mir das erzählt: Ich bin schuld daran, dass ich aussehe, wie ich aussehe“, sagt die 35-Jährige. Sie hat ein Lipödem, eine Fettverteilungsstörung, an der fast vier Millionen Frauen alleine in Deutschland leiden. Viele sprechen nicht offen darüber. Anna-Lena Drescher tut es.

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Lipödem ist eine Krankheit, bei der sich Fettgewebe vor allem in den Beinen und Armen einlagert und verhärtet. Die Extremitäten erscheinen irgendwann unproportional zum übrigen Körper, oft wird von „Reiterhosen-Syndrom“ gesprochen. In einer Gesellschaft, die trotz der Diversity-Vorstöße der jüngsten Vergangenheit immer noch von 90-60-90-Idealvorstellungen für Frauen geprägt ist, stehen die Betroffenen oft unter Druck. Häufig müssen sie sich auch die allerletzten Unverschämtheiten anhören. Sie habe einmal mit ihrem Auto einen Parkplatz bekommen, auf den jemand anders spekuliert habe, gibt Anna-Lena Drescher ein Beispiel. Dieser Mensch habe sie daraufhin angeraunzt: Sie „wäre doch zu fett zum Autofahren“.

Siegen: Anna-Lena Drescher hat ein Lipödem – selbst in der Familie gab es fiese Sprüche

Faktisch ist ein Lipödem für sich genommen schon übel genug, ist verbunden mit Schmerzen und Einschränkungen. Was die Krankheit von vielen anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Reaktionen anderer Menschen den Patientinnen das Leben zusätzlich schwer machen. Es sind nicht nur Fremde, die verbal entgleisen, wie im Gespräch mit Anna-Lena Drescher klar wird. Es sind auch Menschen aus dem persönlichen Umfeld. Manchmal liegen sogar Ärzte mit ihren Äußerungen daneben. Ihre Erfahrungen sind erschütternd, aber nicht untypisch. „Die Geschichten von Betroffenen ähneln sich“, sagt die junge Frau, die im Jahr 2022 eine Selbsthilfegruppe „Lipödem“ in Siegen gegründet hat.

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„Ich war immer schon ein bisschen mehr“, erzählt Anna-Lena Drescher – schon im Kindergarten und in der Grundschule sei das so gewesen. Hilfe habe sie nicht erhalten, im Gegenteil. Selbst in der Familie sei an ihr herumgekrittelt worden, selbst dort „habe ich immer wieder gesagt bekommen: ‘Diese oder jene Kleidung kannst Du aber nicht tragen.’“ In der Ausbildung zur Krankenschwester sei ihr nahegelegt worden, abzunehmen, weil sie andernfalls keine Stelle kriegen würde. Ärzte, die das Lipödem nicht erkannt haben, hätten ihr immer wieder ungefragt Ernährungstipps gegeben, an die sie sich bereits hielt und von denen sie längst aus der Praxis wusste, dass sie nichts nützen. „Irgendwann bin ich nicht mehr zum Arzt gegangen, weil ich mir das nicht mehr antun wollte.“ Doch es ging nicht spurlos an ihr vorbei. Sie habe Essstörungen entwickelt, „über lange Zeiträume nichts gegessen, dann Fressattacken gehabt“, berichtet sie.

Siegen: Lipödem – „Die Schmerzen kamen im Liegen. Ich konnte nicht mehr schlafen“

Körperlich „kam der wirkliche Leidensdruck erst nach dem Wiedereinstieg in den Beruf nach der Schwangerschaft“. Das sei 2018/19 gewesen, „ein Vollzeitjob in der Altenpflege, alleinerziehend, den ganzen Tag auf den Beinen. Die Ruhephasen fehlten“, beschreibt sie. „Die Schmerzen kamen im Liegen, im Bett. Ich konnte nicht mehr schlafen, einmal drei Tage am Stück nicht.“ Sie wechselte den Arbeitgeber, ging in Teilzeit. Sie versuchte, mit Schmerzmitteln funktionsfähig zu bleiben – bei dauerhafter Einnahme eine zusätzliche Belastung für den Körper.

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Die korrekte Diagnose bekam sie mit über 30. „Dass es Lipödem ist, war mir schon vorher klar“, betont sie. Auf das Krankheitsbild sei sie im Internet bereits gestoßen. Auch die Tatsache, dass sie schon immer sehr leicht blaue Flecke gekriegt habe, passte als typisches Symptom dazu. Doch die offizielle Bestätigung durch Fachleute erfolgte erst im Jahr 2020. Da ging es dann allerdings schnell, „schon auf den ersten Blick“, wie sie berichtet. In einer Praxisklinik in Burbach wurde Lipödem in Stadium 3 festgestellt. Ihr wurde die Operation angeboten, die ab dieser Ausprägung von der Krankenkasse bezahlt wird. „Es dauerte noch ein Jahr bis zur ersten OP“, sagt Anna-Lena Drescher. Voraussetzung ist ein Body-Mass-Index (BMI) von weniger als 35. Der BMI gibt das Verhältnis vom Gewicht zur Körpergröße an. Sie schaffte es im Laufe der Monate, den Grenzwert zu unterschreiten: „Ich habe das auf Teufel-komm-raus durchgezogen.“

Siegen: Anna-Lena Drescher gründet Selbsthilfegruppe „Lipödem“

An die erste OP schlossen sich zwei weitere im Abstand von je vier Wochen an, noch einmal zwei weitere – wegen Problemen mit dem Kreislauf – erst nach einem halben Jahr. Behandelt wurden Beine und Hüfte. An Unterschenkeln und Armen war und ist Stadium 3 noch nicht erreicht. Dass fünf Eingriffe erforderlich wurden, liege daran, dass immer nur eine gewisse Menge Fett auf einmal abgesaugt werden dürfe. Es war „schon heftig“, räumt die 35-Jährige ein. Aber die Lipödem-Schmerzen „sind nun sehr viel besser. Ich bin froh, dass ich es habe machen lassen.“

„Feedback, das keiner braucht“

Nicht nur Pöbeleien von Fremden seien für Lipödem-Betroffene verletzend, wie Anna-Lena Drescher schildert. Auch „Tipps“ von Menschen aus dem Umfeld könnten sehr unerfreulich sein, „wenn sie ungefragt kommen“.

Es sei in der Regel gut gemeint, sagt die 35-Jährige – aber eben auch unqualifiziert. Ratschläge wie „Nimm doch mal ab“, „stell’ doch mal Deine Ernährung so und so um“, „Zieh’ dies oder das doch lieber nicht an“ seien „Feedback, das keiner braucht“. Außerdem stecke darin immer auch die Botschaft „Ich weiß besser als Du, was gut für Dich ist“. Tatsächlich könne man aber davon ausgehen, dass Betroffene sich mit dem Thema vertraut gemacht haben und darüber bereits fundierter Bescheid wissen.

Dass heiße allerdings keineswegs, das andere Menschen einen nicht darauf ansprechen sollten, wie Anna-Lena Drescher betont. Es komme darauf an, in welchem Ton und mit welcher Haltung das geschehe. „Wenn jemand sagt: ,Mir ist da was aufgefallen, ich mache mir Sorgen um dich’ oder fragt ,Geht es Dir gut, kann ich etwas für Dich tun?’ – dann ist das etwas ganz Anderes, als ungefragt ,Tipps’ zu geben.“

Nach der letzten Liposuktion gründete sie die Selbsthilfegruppe. Am Anfang seien sie zu viert gewesen, inzwischen zu zehnt. „Mein Eindruck ist, dass es gut tut, darüber zu sprechen; und zu erleben: ,Ich bin nicht allein’“. Anna-Lena Drescher setzt Hoffnung in eine derzeit laufende Erprobungsstudie, innerhalb derer die Modalitäten der Kostenübernahme für Operationen überprüft werden. Sie wünscht sich, „dass Betroffene schon früher OPs bekommen – dass es nicht zum Äußersten kommen muss, weil so viel Lebensqualität verloren geht.“ Manche Frauen in früheren Stadien würden Kredite aufnehmen, um die Liposuktion privat zu bezahlen, formal zählt der Eingriff dann als „Schönheitsoperation“. Doch die Kosten liegen locker im fünfstelligen Bereich. „Nicht jeder kann sich das leisten.“

Siegen: Lipödem-Operation erst im schlimmsten Stadium – das kostet Lebensqualität

Wie massiv und nachhaltig es das Leben verändern kann, wenn Betroffene vor den Eingriffen erst das dritte Stadium und dessen Begleiterscheinungen abwarten müssen, weiß Anna-Lena Drescher. Seit 2020 ist sie arbeitslos oder war in Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation, „Bewerbungen verlaufen im Sande“. Die Fibromyalgie und die damit zusammenhängenden chronischen Schmerzen bleiben ein großes Problem. Ihre Tochter, acht Jahre alt, „muss ebenfalls Rücksicht nehmen“, sagt die junge Mutter. „Sie hat schon viel mitgemacht, weil ich nicht immer so kann.“

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Entmutigen lässt Anna-Lena Drescher sich nicht. Sie bewegt sich, geht drei bis fünf Mal pro Woche schwimmen, bleibt aktiv. Trotzdem: „Was kann ich noch machen?“ sei die Frage, die sie sich immer wieder stelle. Sie befinde sich gerade in einer Orientierungsphase. „Mein Wunsch ist es, Psychologie zu studieren. Das hat mich mit 17 schon interessiert“, blickt sie voraus. Doch sie muss schauen, was geht. „Ich mache einen Schritt nach dem anderen.“

Siegen: Kontakt zur Selbsthilfegruppe Lipödem

… gibt es über die Selbsthilfekontaktstelle der Diakonie in Südwestfalen, 0271/5003-130 oder per E-Mail an silke.sartor@diakonie-sw.de. Auf beratungsdienste-diakonie.de/selbsthilfekontaktstelle gibt es außerdem eine Übersicht über viele weitere Selbsthilfegruppe in der Region.