Hattingen. Juden-Verfolgung in Hattingen: Wir erzählen noch einmal drei Lebensgeschichten derer, die aus unserer Stadt deportiert oder vertrieben wurden.

Hattingen lebt durch seine Juden. Ja, die Familien Cahn und Urias etwa prägen die Stadtgesellschaft, sie bringen sich ein, sie sind beliebt. Doch schon vor ihrer Machtübernahme zeigen die Nazis ihre häss­liche Fratze: Die Juden werden bedrängt, in ihrer Freiheit beschränkt. Und eben diese Jagd führt zur Flucht oder führt zur Deportation.

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Vor 80 Jahren: Eine Reise ohne Rückkehr

Für 15 Hattinger Jüdinnen und Juden beginnt am 28. April 1942 eine Reise ohne Rückkehr – die Deportation ins polnische Zamość. Der von den Nazis angeordnete Eintrag „unbekannt verzogen“, der später in die Meldekarten geschrieben wird, ist eine schreckliche Wahrheit.

Von der Alten Gewehrfabrik an der Ruhrstraße gehen die Hattinger Juden bei schönstem Frühlingswetter voll bepackt zum etwa ein Kilometer entfernten Hattinger Bahnhof. Sie steigen in einen Nahverkehrszug nach Dortmund. Zwei Tage verbringen sie im Sammellager namens „Turnhalle Eintracht“, dann geht ihre Fahrt weiter – sie führt sie und alle anderen 800 jüdischen Kinder, Frauen und Männer des Transports in den Tod.

In der letzten April-Woche 1942 werden 15 Hattinger Jüdinnen und Juden ins polnische Ghetto Zamość gebracht – für sie ist es ein Abschied ohne Wiederkehr! Stellvertretend für alle blicken wir noch einmal auf drei Lebensgeschichten derer, die aus unserer Stadt deportiert oder vertrieben wurden.

Selma Abraham

Selma Abraham (1886-?) wurde im Bügeleisenhaus geboren.
Selma Abraham (1886-?) wurde im Bügeleisenhaus geboren. © Stadtarchiv

Selma Abraham wird am 7. Juli 1886 als Tochter des jüdischen Metzger-Ehepaars Nathan und Amalie Cahn im Bügeleisenhaus geboren. Die Familie steht mitten im Leben, ist anerkannt und beliebt, mischt in Vereinen mit und entspricht in keiner Weise den Vorurteilen, die Juden immer wieder entgegenschlagen – sogar nicht­koscheres Fleisch wird verkauft. Selma hilft mit, steht ihren Eltern treu zur Seite.

Ihre Mutter vermacht ihr im Juli 1940 das Bügeleisenhaus: Als „Ausgleich für die Pflege und Verpflegung, die mir meine Tochter Selma bis zu meinem Tode angedeihen lässt, sowie für die Kosten einer standesgemäßen Beerdigung nach meinem Ableben“. Doch als Jüdin hat sie nichts mehr vom Geschenk: Die Enteignung wird im Juli 1942 vollzogen! Ob Selma Abraham und ihr Ehemann da noch leben, vermag keiner zu sagen. Ihr letzter Leidensweg ist der Transport ins lettische Judenghetto Riga, bei eisigen Minusgraden und in unbeheizten Waggons. Hier verliert sich die Spur der Eheleute Abraham.

Nach dem Krieg übernimmt die Jewish Trust Corporation die Verwaltung des Bügeleisenhauses und verkauft es im Jahr 1955 an den Heimatverein Hattingen/Ruhr. Neun Jahre später wird Selma Abraham für tot erklärt.

Josef Urias

Josef Urias (1879-1943) war ein anerkannter Kaufmann.
Josef Urias (1879-1943) war ein anerkannter Kaufmann. © Stadtarchiv

Anfang des 19. Jahrhundert etwa zieht Jacob Urias durch die Kneipen, um bei Verkaufsveranstaltungen das Vertrauen der Anwohner zu gewinnen. Am 29. Oktober 1826 eröffnet er im Steinhagen 15 schließlich seine „Manufaktur- und Waren-Handlung“ – sie wird schnell zum größten Kaufhaus in der Stadt.

Josef Urias (geboren am 13. November 1879 in Hattingen) ist nach Urgroßvater Jacob und Vater Salomon sicher der wichtigste Mann an der Spitze des Familienunternehmens. Und er ist noch viel mehr: Motor der Synagogengemeinde und Mitglied des Stadtmagistrats.

Die nach dem Ersten Weltkrieg aufkommenden antisemitischen Strömungen gehen an ihm aber nicht spurlos vorüber. Treibende Kraft ist hierbei der Direktor der Henrichshütte, Ernst Arnold, der ein guter Bekannter des späteren Propagandaministers Joseph Goebbels ist. Er wirft Urias etwa vor, linksradikale Bewegungen zu unterstützen. Und das Geschäft wird im Jahr 1930 geplündert.

Urias legte seine politischen Ämter nieder und tritt aus der Synagogengemeinde aus. Er flüchtet mit seiner Familie und stirbt 1943 in einem Schweizer Flüchtlingslager.

Emmy Roth

Emmy wird am 12. Mai 1885 als drittes Kind von Jakob Urias und seiner Ehefrau Adelheid geboren. Nein, standesgemäße Erwartungen der Gesellschaft sind nicht ihre Welt. Deshalb beginnt Emmy auch als einzige Frau eine Lehre als Gold- und Silberschmiedin. Sie ist eine starke Frau, kann sich durchsetzen. Von ihrem ersten Ehemann lässt sie sich scheiden, der zweite verstirbt. Den Namen Roth, mit dem sie (welt-)bekannt wird, hat sie von ihrem dritten Ehemann.

Emmy Roth (1885-1943) aus Hattingen wurde zu einer weltweit erfolgreichen Silberschmiedin.
Emmy Roth (1885-1943) aus Hattingen wurde zu einer weltweit erfolgreichen Silberschmiedin. © Stadtarchiv

Ihre Arbeiten sind viel beachtet und werden hoch gehandelt. Die größte Ehre für sie ist ein Bericht im New Yorker Kunstmagazin „Creative Art“ (1929). Emmy Roth ist ein Freigeist: Sie sagt, was sie denkt. Doch mit der Machtübernahme der Nazis endet ihre Gedankenfreiheit. Als Jüdin ist sie nicht erwünscht. Noch 1933 flüchtet sie nach Paris, zwei Jahre später zieht sie nach Palästina: erst nach Jerusalem, später nach Tel Aviv. Warum weiß keiner.

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Sie erkrankt an Krebs und trinkt Lösungsmittel. Emmy Roth begeht am 11. Juli 1942 Selbstmord, was im Judentum verboten ist. Trotzdem bekommt sie in Tel Aviv ein Grab – eine Wertschätzung für ihre Arbeit und Persönlichkeit.

>>> Blitzlichter des 20. Jahrhundert