Hattingen. Mit einem lauten Knall wird der Hochofen der Henrichshütte ausgeblasen – und Hattingens stählernes Herz ist erloschen. Eine Stadt ist in Trauer.
Der Schmerz quält ihre Gesichter. Die Enttäuschung ist sichtbar, die Wut spürbar. Sie stehen in der Walzwerkshalle bei der letzten gemeinsame Betriebsversammlung der Thyssen Henrichshütte nebeneinander. Anschließend geht’s zum Abstich – zum letzten Abstich ihrer Henrichshütte. Plötzlich füllt ein unfassbar lauter Knall den Raum. Dann Stille. Am 18. Dezember 1987 endet die Hattinger Stahlgeschichte.
+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Hattingen verpassen? Dann können Sie hier unseren Newsletter abonnieren. Jeden Abend schicken wir Ihnen die Nachrichten aus der Stadt per Mail zu. +++
2500 Arbeiter stehen da. Starr. Fassungslos. Erst so nach und nach nehmen sie sich in den Arm, Tränen fließen. Nicht wenige weinen dann auch hemmungslos. Die Entscheider haben ihnen nicht nur die Arbeit genommen, sie haben ihnen ein Stück Heimat zerstört. Ihre Hoffnung. Ihre Träume. Ihr Leben.
>>> Mehr Nachrichten aus Hattingen und Sprockhövel
„Ich wäre heute am liebsten selbst in den Ofen gesprungen“, sagt Harald Brezinski zur WAZ. „Die Kollegen, der Ofen, das sind doch Teile von mir geworden.“ Sie haben ihren Job verflucht – und lieben ihn doch.
133 Jahre Hüttengeschichte auf 2,5 Quadratkilometern
133 Jahre lang prägt die Hütte diese Stadt, in der Blütezeit arbeiten auf dem rund 2,5 Quadratkilometer großen Areal bis zu 10.000 Menschen. Als Thyssen im Jahr 1974 einsteigt, sind es immer noch 8806. Doch es gibt erste Anzeichen für eine Krise: Aufträge gehen verloren oder sie bleiben gleich ganz aus. Kurzarbeit wird angemeldet, erste Arbeitsplätze fallen weg. Die Unruhe steigert sich von Jahr zu Jahr.
Und am 19. Februar 1987 ist plötzlich alles anders: Die Abrissbirne des Thyssen-Konzerns schlägt mit voller Wucht zu – nüchtern wird verkündet, dass die 4,2-Meter-Walzstraße und die beiden Hochöfen in Hattingen stillgelegt werden.
Das Bürgerkomitee „Hattingen muss leben – verteidigt die Arbeitsplätze auf der Hütte“ gründet sich. Menschen kommen aus allen Bereichen der Stadt und machen mit. Sie appellieren, organisieren, protestieren – der Hüttenkampf lebt auf. Ihr Erfolg: „Durch unseren Kampf ist kein Hattinger arbeitslos geworden. Wir haben die Katastrophe abgewendet – es war nicht alles umsonst“, sagt der Betriebsratsvorsitzender Rolf Bäcker später. Aber: „Wir haben verloren. Wir wollten Arbeitsplätze erhalten – das haben wir nicht geschafft.”
Auszug von WAZ-Redakteur Lutz Heuken
Um Punkt neun Uhr fließt am Freitag morgen das flüssige Eisen aus dem Hochofen Nr. 3 in die bereitstehenden Torpedowagen. Nach einer knappen halben Stunde tröpfelt die glühende Lava nur noch. Dicker Dampf steigt auf, das Ungetüm stöhnt.
Gebannt starren viele hundert Arbeiter der Hattinger Henrichshütte auf die schwarze Silhouette vor dem grauen Dezemberhimmel. Viele nagen betreten an den Lippen. Andere wollen gar nicht hinsehen und wenden sich stumm ab.
Als jeder schon denkt, ,jetzt ist der Ofen aus’, erschüttert noch einmal ein lauter Knall das Werksgelände: Die letzten Gase im Hochofen sind verpufft. Das stählerne Herz ist tot.
Als an diesem Freitagmorgen Wut in Verzweiflung umschlägt, kommen die Hüttenfrauen und geben ihren Männern rote Nelken. „Ein letzter Gruß“, ein Zeichen der Liebe. Ali Gökbulut etwa bekommt einen großen Strauß. 22 Jahre hat er auf der Hütte gearbeitet, die letzten 18 als Kranführer. Er ist gerührt. Für Gökbulut geht es im Thyssen-Walzwerk in Duisburg-Hamborn weiter – „aber ich verliere meine Freunde hier“, sagt er.
Auch Mitarbeiter beim Werkschutz, bei der Feuerwehr und in allen nichtproduzierenden Bereichen verlieren an diesem Tag ihren Job. Die Ausbildung wird beendet. Was bleibt, ist eine Frage: Wie soll es nun weitergehen?
>>> Folgen Sie unserer Redaktion auf Facebook – hier finden Sie uns
Leuchten des Hochofens für immer verloren
Die Stadt ist in Trauer. Und Bürgermeister Günter Wüllner spricht aus, was alle wissen und dennoch nicht wahrhaben wollen: „Das Leuchten des Hochofens am Abendhimmel ist für immer verloren!“ Es ist Otto König, der IG-Metall-Chef in Hattingen, der sich sammelt und ein Signal sendet: „Wir müssen unsere Trauer in langen Zorn verwandeln,. Das hier ist nicht das Ende!“
>>> Blitzlichter des 20. Jahrhundert
- Til Schweigers Tage auf der Henrichshütte
- „Schandmauer“: Mahnmal und Zeichen der Solidarität
- 7 Kilometer Luftbrücke zwischen Sprockhövel und Hattingen
- Als die Scorpions die Ruhrwiesen rockten
- Olympia-Gold für Hattingen: Ruderhaus wird zum Tollhaus
- Los entscheidet über neuen Bürgermeister in Hattingen
- Aus für Henrichshütte mit einem lauten Knall
- Karneval mit Quetschkommode und Bollerwagen
- Tausende strömen zum Baden in der Ruhr nach Hattingen
- Als der Markenname Hill in Hattingen verschwunden ist
- Was Paul Breitner und Gerd Müller in Hattingen gemacht haben
- Die Invasion der Kelly-Fans auf dem Untermarkt
- Für die allgemeinen Bedürfnisse der Bürger in Hattingen
- Wie Hattingen in den Zwanzigern zur Hitler-Hochburg wird
- Ende der Doppelspitze – Liebig kommt für Wüllner
- Die Nacht, in der die Ruhr die Stadt Hattingen überflutet
- Oliver Bierhoff kommt als Trauzeuge in Hattingen vorbei
- Dieser Brand an der Unionstraße bleibt ein Rätsel
- Frank Wagners Schuss ins Glück für den TuS Hattingen
- Mönninghoff: Der erste große Arbeitskampf in Hattingen
- Vor 90 Jahren: Der erste NS-Mord in der Stadt Hattingen
- Straßenbahnen in Hattingen: Die letzte Fahrt der Linie 8
- Vor 50 Jahren: Hattingens Abschied von Weygands Wahrzeichen
- Als die Ruhr in Hattingen ein neues Bett bekommen hat
- Isenburg-Ruine: Die Buddel-AG ist in Hattingen legendär
- Hattingen in den 1960ern: Willy, der Kanzler und ein König
- Hattingen 1924: Für die Schwachen – und für die Kranken
- Empörung beim Erstkontakt mit den Eisenmännern
- Klare Ansage des Bürgermeisters: „Altstadtfest wiederholen!
- Schulenburg erlebt erste Krise am ersten Tag
- In Zeitlupe fällt die Blechbüchse 1994 zu Boden
- Als Rudi Carrell 1988 in die Altstadt rollte
- Schrecklicher Mord mit einem Highlander-Schwert
- EvK Hattingen gegründet: Sechs Goldmark für die erste Klasse
- Hattingen 1985: Im Rathaus regiert die „Filzokratie“!
- Hattingen 1938: Nazis zerstören Synagoge und jüdisches Leben
- Kemnade in Hattingen: Naturkatastrophe und die gewollte Flut
- Der erste Skilift des Ruhrgebiets entsteht 1987 in Hattingen
- Wie der „Der Blaue Planet“ in Hattingen die Herzen eroberte
- Mutter Beimer lernt an diesem Lyzeum fürs Leben
- Neues Rathaus wird mit teurem Champagner gefeiert