Hattingen. Um kurz vor neun fällt der Schornstein – und Hattingen verliert ein großes Wahrzeichen. Es ist das Ende der Kornbrennerei Weygand in der Stadt.

Wehmut bei den Beobachtern, der eine oder die andere wischt sich eine Träne aus dem Auge: Dann rauscht der Schornstein der Schnapsbrennerei Weygand nach einem großen Knall zu Boden – Hattingen verliert an diesem 8. September 1972 eines seiner Wahr­zeichen. Der Betrieb war drei Monate zuvor eingestellt worden.

+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Hattingen verpassen? Dann können Sie hier unseren Newsletter abonnieren. Jeden Abend schicken wir Ihnen die Nachrichten aus der Stadt per Mail zu. +++

Um 8.58 Uhr detonieren die 5,9 Kilogramm Sprengstoff.
Um 8.58 Uhr detonieren die 5,9 Kilogramm Sprengstoff. © Archiv | WAZ

Es ist so gegen Viertel vor neun an diesem Freitagmorgen, als Sprengmeister Günter Bastian zu seinem Sprengkasten geht, der gegenüber am Busbahnhof steht. Kurz später, es ist 8.58 Uhr, legt er den Hebel um und 5,9 Kilo Sprengstoff zerreißen die Ziegelsteinhaut des Weygandschen Schornsteins. Er sackt etwas zusammen, legt sich dann langsam zur Seite Richtung August-Bebel-Straße und liegt nur zehn Sekunden später wie ein 100 Meter langer Steinwurm in Asche und Staub auf dem Boden. Aus und vorbei, Hattingens Kornbrennerei ist Geschichte.

Die einen wischen sich die Tränen aus dem Gesicht, andere freuen sich, dass alles so gut abgelaufen ist. Auch die zwei Familien, die noch in der Nähe des Schornsteins wohnen, dürfen schnell wieder zurück. Und die kleine Karin, gerade zwei Jahre alt, gratuliert ihrem Papa mit einem Blumenstrauß zur perfekten Sprengung in der Innenstadt.

Eine der größten Unternehmer-Geschichten

August Weygand hat eine der größten Unternehmer-Geschichten in dieser Stadt geschrieben: Im Jahr 1805 hat er auf dem Gelände des Ritterguts Kliff eine Kornbrennerei gegründet – und seine Feuerwasser werden zum Marken-, der Schornstein zum Wahrzeichen. Bis zu zwölf Gebäude stehen später auf dem Kerngelände der Firma.

>>> Mehr Nachrichten aus Hattingen und Sprockhövel

Der Schornstein kippt zur Seuite in Richtung August-Bebel-Straße.
Der Schornstein kippt zur Seuite in Richtung August-Bebel-Straße. © Archiv | WAZ

Im August 1868 hat ein Brand bei Weygand bedeutende Folgen: Nachdem in der Scheune ein Feuer ausgebrochen ist, versuchen die Bürger, den Brand zu löschen. Massiver­ Wassermangel erschwert aber das Vorhaben und es gelingt den fleißigen Rettern letztlich nicht, die Flammen unter Kontrolle zu bringen. Die bedeutende Folge: Wenige­ Wochen später wird die Freiwillige Feuerwehr gegründet.

Als Politik und Verwaltung in Hattingen entscheiden, dass die Innenstadt für die Zukunft aufgestellt wird, etwa mit dem Bau des Karstadt-Kaufhauses, verschwindet Wey­gand.

Grundstein aus dem Jahr 1795 wird gefunden

Bei den Abriss-Arbeiten der Gebäude wird der Grundstein aus dem Jahr 1795 gefunden. Der Schornstein indes ist zwischen 1880 und 1890 gebaut worden – mit einer Höhe von 27 Metern. Doch er wächst im Laufe der Jahre und in Etappen immer weiter in die Höhe – am Ende bis auf 48 Meter.

Da liegt er: Nach zehn Sekunden geht der Schonstein an diesem 8. September 1972 in Asche und Staub auf.
Da liegt er: Nach zehn Sekunden geht der Schonstein an diesem 8. September 1972 in Asche und Staub auf. © Archiv | WAZ

Günter Bastians hat dieses Bauwerk mit Präzisionsarbeit und intensiven Vorbereitungen dem Erdboden gleichgemacht. Und als er nach der Sprengung gemeinsam mit den Stadtoberen und dem WAZ-Reporter durch das Meer der nahezu unbeschädigten Ziegelsteine steigt, findet er auch eine zerbrochene Schnapsflasche – das Weygand-Etikett aber ist erhalten. Prost!

>>> Folgen Sie unserer Redaktion auf Facebook – hier finden Sie uns

>>> Blitzlichter des 20. Jahrhundert
Til Schweigers Tage auf der Henrichshütte
„Schandmauer“: Mahnmal und Zeichen der Solidarität
7 Kilometer Luftbrücke zwischen Sprockhövel und Hattingen
Als die Scorpions die Ruhrwiesen rockten
Olympia-Gold für Hattingen: Ruderhaus wird zum Tollhaus
Los entscheidet über neuen Bürgermeister in Hattingen
Aus für Henrichshütte mit einem lauten Knall
Karneval mit Quetschkommode und Bollerwagen
Tausende strömen zum Baden in der Ruhr nach Hattingen
Als der Markenname Hill in Hattingen verschwunden ist
Was Paul Breitner und Gerd Müller in Hattingen gemacht haben
Die Invasion der Kelly-Fans auf dem Untermarkt
Für die allgemeinen Bedürfnisse der Bürger in Hattingen
Wie Hattingen in den Zwanzigern zur Hitler-Hochburg wird
Ende der Doppelspitze – Liebig kommt für Wüllner
Die Nacht, in der die Ruhr die Stadt Hattingen überflutet
Oliver Bierhoff kommt als Trauzeuge in Hattingen vorbei
Dieser Brand an der Unionstraße bleibt ein Rätsel
Frank Wagners Schuss ins Glück für den TuS Hattingen
Mönninghoff: Der erste große Arbeitskampf in Hattingen
Vor 90 Jahren: Der erste NS-Mord in der Stadt Hattingen
Straßenbahnen in Hattingen: Die letzte Fahrt der Linie 8