Hattingen. Zwischen Golfstrom und Niveaball: Vier Flussbadeanstalten locken in den 1920er-Jahren an die Ruhr in Hattingen. Es ist ein pures Vergnügen.

Baden in der Ruhr – Heißa, was ist das für ein Vergnügen. Ja, in den 1920er-Jahren lernen die Steppkes bei Kistner oder Stolle das Schwimmen, im Strandbad in Blankenstein oder bei Brockhaus in Welper. Doch trotz der strengen Kleiderordnung, rümpft der eine oder andere immer wieder pikiert die Nase ob der neuen Freizügigkeit.

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Die Stadt Hattingen hat beispielsweise einen Augenzeugenbericht aus Blankenstein vom 13. Juli 1920 dokumentiert:

„Das warme Sommerwetter am vergangenen Samstag hatte in vielen Menschenkindern die Sehnsucht nach einem erfrischenden Bade in dem kühlen Wasser der Ruhr übermächtig werden lassen. Dies begreifliche Verlangen hat zur Folge gehabt, dass an diesem Tage unser neues Strandbad zu einem Familienbad wurde, in dem Männlein und Weiblein munter durcheinander planschten. Was der Badeausschuss dazu sagen wird, steht noch nicht fest, jedoch hat er ursprünglich mit einem gemeinsamen Baden beider Geschlechter nicht gerechnet. (...) Bei einer Wiederholung wird auch wohl die Polizeibehörde dem Vergnügen ein Ende machen.“

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Sommervergnügen an der Ruhr im Jahr 1958.
Sommervergnügen an der Ruhr im Jahr 1958. © Sammlung Wojahn

Julius Stolle senior hat bereits im Jahr 1898 die fortschrittliche Idee, an der Ruhr eine Badeanstalt einzurichten. Er baut bei Haus Weile einfach Badekabinen auf ausrangierte Kohleschiffe. Sein Sohn – auch ein Julius – erhält im Jahr 1921 schließlich die Konzession für einen öffentlichen Badebetrieb. Frisch, fromm, fröhlich und frei stürmen Mädchen und Jungs fortan ins kühle Nass des Flusses, um sich zu erfrischen und zu vergnügen.

Stolle wird zur bekanntesten und beliebtesten Flussbadeanstalt

Stolle wird zur bekanntesten und beliebtesten Flussbadeanstalt in der Gegend. An heißen Tagen tummeln sich um die 1000 Badegäste im Wasser und auf den Wiesen. An kälteren Tagen sind alle auf der Suche nach dem „Golfstrom“ – das ist das abfließende (warme) Kühlwasser, das die Henrichshütte 500 Meter entfernt von Stolle in die Ruhr einleitet.

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Ein Stück weiter den Fluss hinauf liegt die kleine Flussbadeanstalt Kistner in Winz-Baak. Ein blau-weißer Niveaball ist ihr Markenzeichen, den der Eigentümer „Ziethen“ (er trägt einen Schnurrbart wie der alte Husaren-General Ziethen) immer wieder hoch in den Himmel zieht. Und dann kommen sie in Scharen. Eintritt: ein Groschen.

Erfreulich: Es gibt nie einen tödlichen Unfall in Badeanstalten

Die Flussbadeanstalten sind für die Hattinger ein Urlaubsparadies, hier wollen sie die Lasten des Alltags beiseite legen, hier können sie einfach nur frei sein. Erfreulich: Nicht ein tödlicher Badeunfall ist für diese Jahre verzeichnet.

Über das Baden in der Ruhr

Das Baden in der Ruhr ist nicht ausdrücklich verboten – es ist aber auch nicht erlaubt. Die Hattinger DLRG-Gruppen weisen beispielsweise immer wieder darauf hin, dass es gefährliche Stellen gibt, und dass sich manch einer überschätzt, der ins Wasser geht. Kurzum: Hattingens Flussabschnitt ist für einen unbeschwerten Badespaß nicht geeignet.

Trotzdem wird immer wieder ein Naturfreibad diskutiert, zuletzt angestoßen im Juli 2020 und im Mai 2021 von der CDU. Vorbild ist die Badestelle am Baldeneysee, die es seit 2017 gibt.

Aus Witten werden zudem Stimmen laut, die sich nun ein Naturfreibad am Kemnader See wünschen.

Stolle begrenzt seinen Bereich durch schwimmende Pontons, die zum Sommer auf- und im Herbst abgebaut werden. 30, vielleicht 35 Meter ist die Ruhr hier breit. Und selbst in durchwachsenen Sommern strömen mehr als 44.000 Wasserratten an den Fluss.

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Erst im Jahr 1959 wird der Stöpsel gezogen – auf Drängen der Henrichshütte wird die Ruhr verlegt, damit die Arbeit für ihre 10.000 Beschäftigten besser zu bewältigen ist.