Hattingen. 10.000 Menschen kommen im August 1973 zum „Free Concert“ nach Hattingen. Auch eine unbekannte Band aus Hannover ist auf der Bühne mit dabei.

Woodstock in Hattingen: 10.000 zumeist junge Menschen kommen an die Ruhr, campieren in Schlaf­säcken und Zelten, genießen das Leben und die Musik, die aus den Boxen wummert. Birth Control ist die wohl größte Band auf der Bühne, auch Grobschnitt kennen bereits viele. Doch bei diesem „Free Concert“ am 25. und 26. August 1973 ist auch eine eher unbekannte Rockband aus Hannover mit dabei: die Scorpions.

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Nein, Fotos vom Auftritt von Klaus Meine, Rudolf Schenker und ihren Mitstreitern gibt es keine. Dafür muss die junge Band zu früh am Tag ran, nicht jeder schenkt ihnen die Aufmerksamkeit, die ihnen in den kommenden Jahren in Japan, den USA und letztlich auch hier­zulande entgegengebracht wird. Auch auf dem offiziellen Plakat werden sie erst als Vorletzte genannt.

Mit diesem Plakat wird im Jahr 1973 für das „Free Concert“ in den Ruhrwiesen geworben.
Mit diesem Plakat wird im Jahr 1973 für das „Free Concert“ in den Ruhrwiesen geworben. © FFS | Walter Fischer

Zwei Tage Rock und Beat, noch dazu bei freiem Eintritt – „da musste man einfach dabei sein“, sagt Beate Schiffer – damals 18-jährige Essenerin und 40 Jahre später Kulturdezernentin der Stadt Hattingen – gegenüber der WAZ.

Tramper aus München kommen kurzentschlossen vorbei

So denken in diesem Sommer 73 auch 30 Münchner, die gerade durchs Land trampen. Als sie von dem Happening in Hattingen er­fahren, rufen sie kurzentschlossen das Jugendamt an und erkundigen sich nach dem Weg. Aus Iserlohn kommen­ sogar gleich mehrere hundert Jugendliche angereist, andere pilgern aus Bielefeld oder Frankfurt, aber auch aus Holland und Belgien an die Ruhr.

Das große Aufräumen

Kaum ist das „Free Concert“ am späten Sonntagabend des 26. August 1973 beendet, beginnt das große Aufräumen. Rund 70 Helfer sorgten dafür, dass die tonnenweise von Abfall übersäten Ruhrwiesen wieder freigeräumt werden.

Das „Free Concert“ wurde organisiert vom Hattinger Jugendamt und Vereinen. Sie wollten „etwas für die jungen Leute auf die Beine stellen“. Erwartet wurden 2000 Besucher.

Es wird geküsst, es wird geschwoft, ja, und sicher wird auch das eine oder andere geraucht, was nicht ganz legal ist. Dazu wird auf zwei Bühnen abwechselnd gerockt.

Zwei Stunden lang lassen Grobschnitt auf sich warten

Grobschnitt werden heiß erwartet. Zwei Stunden lassen die Hagener am Samstagabend auf sich warten, frickeln dann so lange an der Technik herum, dass es noch mal eine halbe Stunde dauert, bis sie endlich loslegen. Zentraler Bestandteil des Gigs ist der Song „Solar Music“, den sie auf jedem ihrer Konzerte zele­brieren – mal eine halbe Stunde lang, auch mal eine ganze Stunde. Sie zaubern eine Lichtshow übers Gelände, sie verstehen ihr Handwerk. Sie werden gefeiert.

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Und doch lassen sie keine Gelegenheit aus, über die Veranstalter zu schimpfen. Warum weiß keiner. Womöglich war es ja ein Drink zu viel, denn auch dass es an diesem Abend etwas kühler als tagsüber ist, lasten sie den Verantwortlichen an.

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Die „Zwei-Tages-Orgie“ (O-Ton WAZ Hattingen vom 27. August 1973) geht friedlich über die Bühne. Die Polizei hat dennoch Stress: Denn der Verkehr rund um die Ruhrwiesen bricht zusammen, lange Autoschlangen bilden sich und im Radio wird vor „dem Großraum Hattingen“ gewarnt.

Keine Schlägereien, sondern kuschelnde Pärchen

Es gibt keine Schlägereien, sondern vielmehr kuschelnde Pärchen in den Ruhrwiesen. Als die Scorpions ihr Debütalbum „Lonesome Crow“ vorstellen, sind viele abgelenkt. Dabei ist ihr Auftritt schon etwas Besonderes, weil sie sonst als Vorband von Rory Gallagher und Uriah Heep unterwegs sind.

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Am zweiten Tag sorgt Pell Mell für Aufsehen. Denn die Prog-Rock-Band, die zunächst von vielen als Deep-Purple-Verschnitt verschmäht wird, muss sich erst einmal bei anderen eine Orgel besorgen, ehe es losgeht – dafür dann mit Wumms. Und so können viele beim Höhepunkt mit Birth Control kaum noch stehen – so glückselig, aber auch anstrengend waren die zwei Tage.