Hattingen. Die Ruhrverlegung im Jahr 1959 ist der größte Eingriff des Menschen in das natürlich gewachsene Ruhrtal. Was Hattingen dazu bewogen hat.

Mehr Platz für die Hütte: Weil die Geschäfte von Hattingens größtem Arbeitgeber in den 1950er-Jahren so richtig brummen, soll das Werksgelände erheblich erweitert werden. Die Ruhr soll dafür weichen – und wird verlegt. Die Flussbadeanstalt Stolle muss schließen.

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Die Henrichshütte ist eine Macht. Zehntausend Menschen haben hier ihren Arbeitsplatz, das Roheisen fließt in Strömen aus den Hochöfen. Nebenan stehen Angler im idyllischen Ruhrtal am Fluss, stets auf der Jagd nach schmackhaften Fischen. Ruderer genießen das breite Bett, das ausreichend Platz zum Training anbietet.

Henrichshütte 1949 von der Demontageliste gestrichen

Nachdem die englischen Besatzer die Henrichshütte im November 1949 von ihrer Demontageliste gestrichen haben, treiben die verantwortlichen Industriebosse eine Expansion voran. Die Lokalpolitik zeigt sich schnell offen für die Ideen, die die Verlegung der Ruhr vorsehen – und im Jahr 1956 steht auch schließlich der Beschluss fest.

Der Ruhrbogen, etwa um das Jahr 1939.
Der Ruhrbogen, etwa um das Jahr 1939. © Sammlung Wojahn

Am 21. Mai 1959 rollt schweres Gerät an. Vom Schepmannschen Hof (nahe Westenfeld) bis zum Ruhrwehr wird das neue Ruhrbett ausgebaggert. 64.000 Kubikmeter Erdreich und 65.000 Kubikmeter Felsen müssen weggeschafft werden – der alte Ruhrbogen wird einfach zugeschüttet. Der neu geschaffene Verlauf ist etwa 1,5 Kilometer lang und damit um einige hundert Meter kürzer als zuvor.

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Es ist seit der Gründung der Hütte im Jahr 1854 der größte Eingriff des Menschen in die natürliche Landschaftsform des Ruhrtals. Das Werksgelände wächst um rund 500.000 Quadratmeter auf mehr als 1,5 Millionen Quadratmeter an. Und die bisher landwirtschaftlich genutzten Flächen werden in Industriegelände umgewandelt, es entsteht ein großes Erzlager sowie eine Sinteranlage samt hohem Schornstein. Das erweiterte Hüttenwerk ist das größte Unternehmen im mittleren Ruhrtal.

Aus für die Flussbadeanstalt Stolle

So sehr Hattingen durch diese Maßnahme auch wirtschaftlich floriert, für den Freizeitwert ist die Entscheidung ein Verlust. Denn der Flussbadeanstalt Stolle wird im Zuge des Entscheidungsprozesses der Stöpsel gezogen. Jahrzehntelang waren die Hattingerinnen und Hattinger zu Tausenden hierhergekommen, um sich an heißen Sommertagen eine Erfrischung im kühlen Nass zu gönnen. An kühleren Tagen indes sind alle auf der Suche nach dem „Golfstrom“ – das ist das abfließende (warme) Kühlwasser, das die Henrichshütte 500 Meter entfernt von Stolle in die Ruhr einleitet.

Die Henrichshütte im Gegenlicht, zirka 1970.
Die Henrichshütte im Gegenlicht, zirka 1970. © Sammlung Wojahn

Als Entschädigung für die Schließung bekommt Familie Stolle ein Grundstück am Ruhrwehr, auf dem sie einen Campingplatz gründet.

Zurück an die Hütte. „Spazierte man vor 1960 auf dem Leinpfad an der Ruhr entlang, dann schallten dem Wanderer die lauten Schläge aus dem Hammerwerk entgegen. Monotone Betriebsgeräusche und die Pfeifsignale der Rangier-Lok, die die Erzwaggons den Berg hinauf zu den Hochöfen schob, zeugten von pulsierendem Leben und klangen einem wie Musik in den Ohren“, hat Heimatfreund Gerhard Wojahn in seinen Erinnerungen für die WAZ aufgeschrieben. Was ihm aber bei einem Besuch gut 50 Jahre später eine besondere Freude ist: „Es wird heute wie damals am Fluss geangelt und auch gerudert.“

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