Essen. Das Südostviertel hat Identitätsprobleme, dabei gehört zu den spannendsten Quartieren in Essen. Folge 28 unserer Stadtteil-Serie “60 Minuten in...“.
So gegensätzlich wie das dicht besiedelte Südostviertel (zur Bildergalerie) ist kaum ein Stadtteil in Essen. Zum zentrumsnahen Viertel gehört der geschichtsträchtige Ostfriedhof genauso wie die Steeler Straße rund um den Wasserturm, der Moltkeplatz mit seinen gutbürgerlichen Häusern und die wenig attraktiven Straßenzüge, die sich zwischen der A40 und den Bahngleisen befinden.
Wie zufällig gezogen wirken die Grenzen, was dazu führt, dass manchen Bewohnern gar nicht bewusst ist, dass sie im Südostviertel leben. „Huttrop“, „Moltkeviertel“ oder „am Wasserturm“ lauten die Angaben einer spontanen Umfrage.
„Einkaufstechnisch gibt es hier fast alles“
Das Identitätsproblem kennt auch Christian Kaiser: „Deswegen ist schon darüber nachgedacht worden, das Südostviertel in Essen-Wasserturm umzubenennen“, sagt er. Der 29 Jahre alter Rechtsreferendar und SPD-Politiker vertritt den Stadtteil im Rat der Stadt und hat während des vergangenen Wahlkampfes quasi jeden Südostviertelbewohner persönlich besucht. „Naja, ganz so stimmt es nicht“, relativiert er, „mein Gebiet lag entlang der Steeler Straße. Aber da habe ich tatsächlich an jeder Tür geschellt.“
Das ist das Südostviertel
Auf der zentralen Einkaufsstraße beginnen wir unseren Rundgang. Hier wechseln sich türkische Imbissbuden mit arabischen Gemüsegeschäften, Ein-Euro-Läden und deutschen Supermarktfilialisten ab. Die klassischen Einzelhändler, für die die Steeler Straße einst bekannt war, haben bis auf ein paar wenige aufgegeben. „Leider“, sagt Kaiser, „aber trotzdem ist dieser Teil noch sehr urban und wird von den umliegenden Bewohnern stark frequentiert. Denn einkaufstechnisch gibt es hier fast alles.“
Verwahrloste Häuserzeilen jenseits der A40
Deprimierender sieht es jenseits der A40 aus, die das Südostviertel durchquert. Hässlich, dreckig und verwahrlost sind die Häuserzeilen, verstaubt die Schaufenster, in denen schon lange keine Waren mehr ausgestellt werden. Erst unlängst hat die Bezirksvertretung die Verwaltung gebeten, zu prüfen, wie und ob man etwas gegen die Leerstände tun kann. Christian Kaiser hätte schon Ideen, wie man den Verfall stoppen könnte: „Man müsste das Fassadenprogramm der Stadt nutzen, vielleicht eine Kooperation mit dem Kulturzentrum Storp9 einstielen und leerstehende Geschäfte Künstlern und Kreativen zur Verfügung stellen.“ Dafür müssten sich aber erstmal alle Beteiligten an einen Tisch setzen.
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Ganz anders wirkt das Südostviertel, sobald man die Steeler Straße Richtung Moltkeplatz verlässt. Sauber und ordentlich wirken die einheitlich gestalteten Häuserblöcke, trotz der nahen Autobahn ist es angenehm ruhig. Direkt an der Hagenaustraße betreibt Abdel Kader Ahmad seinen An- und Verkauf. Zwischen Bierseideln, alten Pelzmänteln, Röhrenradios und unechten Perlenketten findet der Trödelgänger in dem vollgestopften Laden alles, was sein Herz begehrt. Gegenüber hält die Turmwache Stellung, eine dieser klassischen Kneipen, wie es sie immer seltener gibt: Schon am Vormittag stehen die ersten Gäste am Tresen.
Auferstehungskirche und Ostfriedhof
Ein paar Straßen weiter trifft man auf gleich zwei bemerkenswerte Baudenkmäler: Wie eine Torte wirkt die Auferstehungskirche. Nach den Plänen von Otto Bartning mitten in der Weltwirtschaftskrise errichtet, gilt sie als ein Leitbau der modernen Kirchenarchitektur in Europa. Auch der halbkugelige Bau der neuen Synagoge, 1959 errichtet, ist europaweit einzigartig.
Auf eine andere Art einzigartig ist der Ostfriedhof, eine der wenigen grünen Oasen des Viertels: Zwischen alten Bäumen fanden hier die Grillos, die Zweigerts, die Baedekers und Huyssens ihre letzte Ruhe. Allesamt Essener Familien, die die Stadtgeschichte prägten und deren Bedeutung beeindruckende Grabmäler dokumentieren. Weitaus schlichter wird an einen der populärsten Söhne des Südostviertels, den Schauspieler Diether Krebs erinnert: Nur sein Name und die Geburts- und Sterbedaten stehen auf dem Findling, der zwischen zwei immergrünen Nadelbäumen liegt.
Neue Synagoge an der Sedanstraße: ein außergewöhnlicher Ort
Ein außergewöhnliches Baudenkmal steht seit 1959 in der Sedanstraße im Südostviertel: In einem halbkugeligen kreisförmigen Bau ist die neue Synagoge untergebracht. Die Essener Architekten Dieter Knoblauch und Heinz Heise entwarfen das europaweit einzigartige jüdische Gotteshaus nach dem Vorbild einer in Cleveland/Ohio erbauten Synagoge.
Damals bestand die jüdische Gemeinde aus gerade mal 275 Mitgliedern. Für sie stellte sich kaum die Frage, ob sie die monumentale Synagogen-Ruine am Steeler Tor erneut nutzen wollten. Das Gebäude mit seinen 1400 Plätzen war zu groß, ein Wiederaufbau damals viel zu teuer. Also entschied man sich mutig für einen Neubau, obwohl man nicht wusste, wie und ob sich überhaupt jüdisches Leben in der Stadt wieder entwickeln würde. Der Standort an der Sedanstraße wurde nicht zufällig gewählt: Bis zu seiner Zerstörung im November 1938 stand dort das Jüdische Jugendheim.
930 Mitglieder hat die Gemeinde heute
Es entstand ein architektonisches Kleinod, dessen Schönheit erst innen sichtbar wird. Dazu gehört der helle Betsaal mit den symmetrisch angeordneten farbigen Glasfenstern, die an ein Firmament erinnern. Die vom Boden aufragende Kuppel vermittelt den Menschen, die hier beten, Geborgenheit. Bemerkenswert sind auch die von Kurt Lewy gestalteten Buntglasfenster im Gemeindehaus, die Mikwe (Ritualbad) im Untergeschoss und das begrünte Atrium mit Magnolienbaum, Brunnen, Gedenkstein und festem Platz für die Laubhütte.
Inzwischen zählt die Gemeinde um die 930 Mitglieder, für die die neue Synagoge mit dem angeschlossenen Gemeindezentrum ein wichtiger Ort jüdischen Lebens geworden: 2008 wurde hier die erste Hochzeit seit der Shoa gefeiert.
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