Essen. Begrenzt von Eisenbahnlinien und Straßen, gehört das Ostviertel zu den Stadtteilen ohne ausgeprägten Charakter. Vorherrschend ist hier Industrie und Gewerbe, Wohnquartiere gibt es nur wenige. Folge 46 unserer Stadtteil-Serie “60 Minuten in...“.
Ein schmaler Weg führt ins Grün: Links sieht man zwischen den Bäumen die Industrieanlagen der Carbo-Tech, rechts fließt der Stoppenberger Bach und transportiert die Abwässer der Stadt. Zwei mächtige rostige Eisenbahnbrücken überspannen den Pfad, der im Zuge des Stadtentwicklungsprogramms „Neue Wege zum Wasser“ angelegt wurde. Ein paar Meter weiter dann taucht eine weite umzäunte Wiesenfläche auf. Das Überlaufbecken für die Köttelbecke ist an sonnigen Tagen ein Eldorado für Hasen. „Manchmal kreisen auch Greifvögel und abends kommen die Füchse“, weiß Christiane Moos und fügt augenzwinkernd hinzu: „Naturbeobachtungen gibt es eben nicht nur in der Serengeti, sondern auch bei uns im Ostviertel.“
Natur und Ostviertel (zur Bildergalerie) – das passt eigentlich gar nicht zusammen. Denn das innenstadtnahe Viertel wird geprägt durch große zusammenhängende Gewerbeflächen, die Chemieanlagen der ehemaligen Goldschmidt AG und der Carbo Tech, durch den Evag-Betriebshof und die Hauptfeuerwache.
Blick vom höchsten Punkt des Ostviertels auf Essener Skyline
„Schön ist es hier nicht“, gibt Christiane Moos zu und erzählt, dass sie nach ihrem Herzug vor knapp 40 Jahren mehr als zehn Jahre gebraucht habe, um sich ans Ostviertel zu gewöhnen. Dabei ist die CDU-Lokalpolitikerin hier quasi aufgewachsen, war häufiger im Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern auf der Elisenstraße („einer der ersten Selbstbedienungsläden in Essen“) als zu Hause im beschaulichen Überruhr. Trotzdem fiel es ihr nicht einfach, dem herben Charakter des Viertels etwas Positives abzugewinnen. Zum Beispiel den Blick vom höchsten Punkt des Ostviertels auf die Essener Skyline: Den gibt es zwischen dem Evag-Betriebshof und der Hauptfeuerwache „mein Lieblingsplatz im Ostviertel“, sagt Christiane Moos dazu.
Das ist das Essener Ostviertel
Begonnen haben wir den Rundgang an der St. Barbara Kirche. 2014 geschlossen, lagern heute Möbel der Caritas Flüchtlingshilfe im Kirchraum. Das Areal soll bald verkauft werden.„Dort wird dringend benötigter sozialer Wohnungsbau entstehen.“ Direkt vor dem Gotteshaus liegt das einzige Stück Grünfläche im ganzen Viertel. Kinder sieht man heute im Elisenpark nicht, dafür zwei Männer, die orientalische Fleischspieße grillen. Das Ostviertel, auch das erzählt Christiane Moos, sei nicht frei von sozialen Spannungen.
Probleme mit Vermüllung und Ruhestörung
Der Migrantenanteil ist hoch. Anwohner klagen über immer wieder auftretende Probleme mit Vermüllung und Ruhestörung. Ein Brennpunkt ist der gesichtslose Wohnblock an der Elisenstraße. „Erst wohnten dort Polen und Russen, heute Rumänen und Bulgaren.“ Um die Situation zu entschärfen, hat der Bürgerverein Essen-Altstadt, in dem sich auch Christiane Moos engagiert, dafür gesorgt, dass ein Hausmeister angestellt wurde.
Die 57-Jährige hat in ihrem Viertel alles im Blick – sie wohnt gleich gegenüber in einer der wenigen gutbürgerlichen Enklaven. Das geschlossene Karree an der Eisernen Hand besteht aus Einfamilienhäusern, die bereits vor dem Krieg erbaut wurden. Mittendrin die dazugehörigen Gärten, „ein Paradies, als meine Kinder klein waren“. Auf die belebte Straße durften sie allerdings nicht. Dicht besiedelt ist das Alfrediviertel im Schatten des Rathauses, wo nur ein paar wenige Gründerzeithäuser den Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges überlebt haben. Wie auch das Verwaltungsgebäude der ehemaligen Zeche Beust in der gleichnamigen Straße und die 1901 gebaute Königliche Maschinenbauschule an der Schützenbahn; beide Bauten stehen unter Denkmalschutz. „Eigentlich gehörte auch das Rathaus zu uns“, sagt Christiane Moos mit Blick auf die städtische Zentrale. Die wurde auf dem einstigen Ribbeckplatz errichtet, „und der lag im Ostviertel. Wahrscheinlich hat es poltische Gründe, dass wir ihn verloren haben. Schade eigentlich.“
Kein Recht auf einen Platz im Bunker
Tausende Essener haben im Luftschutzbunker an der Eisernen Hand während der Bombenangriffe des Zweiten Weltkrieges Schutz gefunden. Das Recht auf einen Bunkerplatz galt aber nicht für alle: 99 russische Zwangsarbeiter starben am 12. Dezember 1944 einen Steinwurf vom rettenden Bau entfernt eines elenden Todes in einem verschütteten Stollen. Die Gebeine der toten Russen liegen bis heute unter einem Denkmal an der Gerlingstraße, das ihr anonymes Grab markiert.
Der Name Goldschmidt ist Geschichte
Eine Chemiefabrik mitten in der Stadt zu gründen – das wäre heute nicht mehr möglich. Anders im Februar 1890: Damals zog das in Berlin gegründete Chemieunternehmen Goldschmidt in das prosperierende Ruhrgebiet und fand den Standort im Ostviertel. Dort konnte Gründersohn Karl Goldschmidt seine Erfindung, ein Verfahren zur Entzinnung von Weißblech, weiter vorantreiben. Und das tat er mit Erfolg: Vor dem Ersten Weltkrieg war Goldschmidt in Sachen Entzinnung Weltmarktführer. In der 1920er-Jahren erlebte das Unternehmen einen weiteren Aufstieg durch das Thermit-Verfahren, einer Technologie zur lückenlosen Verschweißung von Straßen- und Eisenbahnschienen. 1999 wurde dieser Bereich, weil er nicht mehr zum Kerngeschäft gehörte, verkauft. Denn der Schwerpunkt lag mittlerweile ganz auf der Spezialchemie.
Schon in den 1920er-Jahren entwickelten die Goldschmidt-Brüder Emulgatoren, die unter anderem in der Kosmetikindustrie Einsatz finden. Sie machen bis heute einen Großteil der Produktion an der Goldschmidtstraße aus. In den 1950er Jahren entwickelte sich zudem die Silikon-Chemie – bis heute zweites Standbein am Standort.
1997 wurde das Familienunternehmen von der Viag übernommen, die später zusammen mit der Veba zur Degussa wurde. Die Familie Goldschmidt hielt noch bis zum Jahr 2006 Aktien. Mit Gründung der Evonik 2007 wurde jedoch aus dem Unternehmen eine GmbH – das Ende der Familien-Ära Goldschmidt an der gleichnamigen Straße.
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