Essen. Ihr Stadtteil könnte ein zweites Kettwig sein, sagt Hiltrud Schmutzler-Jäger. Hätte man nicht zahllose Gründerzeit- und Fachwerkbauten abgerissen, um Platz für Hochhäuser und breite Straßen zu schaffen. Folge 39 unserer Stadtteil-Serie “60 Minuten in...“.
Als Politikerin fühlt sich Hiltrud Schmutzler-Jäger der ganzen Stadt verpflichtet, als Privatperson ist die grüne Ratsfrau hemmungslos parteiisch: „Ich bin Steelenserin durch und durch und kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben.“
Sie war ja mal weg, hat in Duisburg Sport, Politik und Soziologie studiert, kam zurück, lebte in Kray, Haarzopf, Frohnhausen... Bis sie 1992 mit ihrem Ehemann wieder nach Steele (zur Bildergalerie) zog, da war sie 30. Wie sie selbst wuchsen nun auch ihr Sohn und ihre Tochter hier auf. Wer mit Hiltrud Schmutzler-Jäger durch Steele läuft, macht Stadtteil-Spaziergang und Zeitreise in einem.
Bundesweit größte Flächensanierung
Wir treffen uns am S-Bahnhof Steele mit Blick auf die mehrspurige Steeler Straße, auf die klotzige Kaiser-Otto-Residenz – und die Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung. Letztere ist Kinderheim, stolzes Bauwerk von 1763 und für Schmutzler-Jäger ein Beleg für das, was Steele sein könnte, wenn man es nicht seit den 1960er Jahren einer der bundesweit größten Flächensanierungen ausgesetzt hätte. Um Wohnraum zu schaffen, riss man gnadenlos Gründerzeit- und Fachwerkhäuser ab, ersetzte sie durch Hochhäuser.
„Endstation Größenwahn“ heißt das Buch von Tim Schanetzky, das die Grüne dazu empfiehlt. Aber sie kann sich auch noch hineinversetzen in das Mädchen Hiltrud, das staunend die Rolltreppe hochfuhr, die ins Kaufhaus Wertheim führte. Heute beherbergt der Zweckbau Saturn: „Immerhin kein Leerstand“, sagt Hiltrud Schmutzler-Jäger und weist auf die beiden schön hergerichteten Fachwerkhäuser, die den Beton-Exzess überlebt haben.
Frankenkönig hielt im Jahr 938 einen Hoftag ab
Schon stehen wir auf dem Kaiser-Otto-Platz, der daran erinnert, dass der Frankenkönig im Jahr 938 in Steele einen Hoftag abhielt. Einen hübschen Platz hat man ihm geschenkt, mit alten Fassaden, neuen Cafés, „und autofrei“. Das freut die Radlerin und Flaneurin, die sich noch erinnert, wie die Straßenbahn mitten auf dem Platz hielt. Und wie sie als Schülerin nachmittags zu Tchibo ging und in den Rock Store am Grendplatz „nach ausgefallenen Scheiben gucken“. Kaffee und Vinyl – beide Adressen gibt es noch.
Einen Stopp machen wir auch am Grend, ehemals Rathaus, Hauswirtschaftsschule, erster Standort des Carl-Humann-Gymnasiums, heute Kulturzentrum, Theater, Gästehaus. Im Herbst feiert diese Steeler Institution ihr 20-jähriges Bestehen, und gleich jetzt erlauben sich Leiter Johannes Brackmann und Hiltrud Schmutzler-Jäger einen Blick in die Geschichte. In jene Zeit, „als wir ständig etwas gründeten“. Eine Töpferwerkstatt, einen Kinderladen, ein Jazz-Festival, eine alternative Zeitung – oder das Grend. „Und ich hab’ 1994 meine erste internationale Frauengruppe gegründet“, fällt Hiltrud Schmutzler-Jäger ein. Ohne das Etikett „international“ ging damals ja gar nichts – und ohne Herzblut auch nicht. Wie gern sie bei den Weltmusikabenden getanzt habe!
Die Steeler Altstadt
Wehmut? Ach was. Wenn sie heute Lust auf Musik hat, geht sie in die Freak Show, einen Steinwurf vom Grend. Wir aber laufen zum Hünninghausenweg, wo die Ratsfrau mit ihrer Familie in einer Wohnung in einem wunderschönen, denkmalgeschützten Gründerzeithaus lebt. Direkt gegenüber einer phantasielosen Mietskaserne. Wer sich hier in die Mitte des Hü-Wegs stellt, dem zeigt Steele seine beiden Gesichter.
Das eine ist schäbig, das ja. Andererseits würde Hiltrud Schmutzler-Jäger nicht in einem rein bürgerlichen Viertel wohnen wollen. Sie ist um die Ecke aufgewachsen, am Joseph-Boismard-Weg, das Klo auf halber Treppe. „Als ich damals meine Freundinnen in den Hochhäusern besuchte, fand ich das so modern! Mit Müllschlucker und Aufzug!“ Und: Bis heute habe man aus den Häusern den besten Blick aufs Wasser. „Es ist ein Riesengeschenk, zwei Minuten von der Ruhr zu wohnen.“ Das kleine Steeler Freibad, der Ruderclub, die Radtrasse. Im oberhalb gelegenen Stadtgarten ist sie als Kind Rollschuh und Schlitten gefahren, hatte später in den lauschigen Ecken das erste Rendezvous. Auf den Ruhrwiesen hat sie mit Freunden campiert und Gitarre gespielt. Sie blickt zurück, blickt ins Gras: „Naja, heute ist das vor allem eine Hundewiese.“ Nein, Hiltrud Schmutzler-Jäger verklärt ihr Steele nicht – aber sie ist noch immer verliebt in diesen Stadtteil. „Wenn man das nicht so kaputtsaniert hätte, wär’s heute ein zweites Kettwig.“
Stadtteilwappen: Die drei Ringe der Schmiede
Drei verschlungene Ringe auf goldenem Feld: Das Wappen ist aus dem Steeler Siegel von 1578 entliehen. Tonangebende Bürger in Steele waren die Mitglieder der Schmiedegilde; ihr Patron war der heilige Eligius. Eins seiner Attribute – ein Ring – wurde zum Wappenzeichen der Steeler Schmiede. Das gelbe Feld deutet das Feuer an, das Schwarz der Ringe das Eisen. Das Wappen ist nicht mit den Krupp-Ringen zu verwechseln, die auch anders angeordnet sind, betont Arnd Hepprich vom Steeler Archiv. Die drei Ringe findet man an vielen Steeler Fassaden; es gibt dort auch die Dreiringstraße.
Hier werden Wurstwasser und Rock’n’Roll serviert
Das ist mal eine Kellerbar mit Kultpotenzial: Vom Eingang am Grendplatz geht’s eine steile Treppe hinab in einen Höllenschlund – willkommen in der Freak Show. Hier lehnt Horrorfilmheld Freddy Krueger an der Wand, hier spielt ein Skelett Gitarre. Getrunken werden Wurstwasser oder Vampire Killer. Dazu servieren Ela und Benny Nordvall Musik von Punkrock über Funk und Jazz bis Reggae – wie sagen die beiden: „All kinda Rock’n’Roll that kicks your ass.“ Neben Konzerten und Open Sessions gibt’s auch Karaoke-Abend und Luftgitarren-Meisterschaft. Geöffnet: Fr/Sa, 20- 4 Uhr.
Kaiser Otto I. hielt einen Hoftag in Steele ab
Der Name „Steele“ stammt wohl von den Ripuariern, die neben anderen germanischen Stämmen hier siedelten und in deren Sprache „stehal“ etwa „abschüssig, steil“ bedeutete (gemeint war vermutlich der Steilhang des Steeler Kirchbergs). Daraus wurde Stela, Steyll und dann Steele. 938 hielt der Frankenkönig und spätere Kaiser Otto I. hier einen Hoftag ab. Im 16./17. Jahrhundert wurde Steele durch seine Gewehrproduktion bekannt. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts war es von einer Stadtmauer mit vier Haupttoren umgeben, von der heute nur noch wenige Reste zu sehen sind. 1929 wurde Steele nach Essen eingemeindet.
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