Essen. Gerschede ist einer der kleinsten Stadtteile Essens. Trotzdem gefällt er mit seiner Mischung aus Ruhrgebietscharme und ländlicher Idylle. Folge 34 unserer Stadtteil-Serie “60 Minuten in...“.
60 Minuten müssten ja eigentlich reichen für einen Spaziergang durch Essen-Gerschede. Denkt der Fremde. Schließlich ist Gerschede so klein – eingezwängt zwischen Dellwig, Borbeck und Bergeborbeck. Doch alle Pläne sind Makulatur, wenn man Marianne Staudinger zum Spaziergang bittet. 82 Jahre jung ist die Tochter aus einer tiefroten sozialdemokratischen Familie. 60 Minuten mit ihr sind längst nicht genug. Sie hat so viel zu erzählen von Bächen und Tälern, Norweger-Häusern und der Südseestraße.
Ursprünglich stammt Marianne Staudinger, geb. Kuhn, aus Steele. Mitte der 50er Jahre bekamen ihre Eltern die Chance, eins der neuartigen Norweger-Häuser zu kaufen, das der skandinavische Staat der evangelischen Kirche geschenkt hatte. „Nur das Grundstück und das Fundament musste bezahlt werden, das Holzhaus selbst zahlte die Stiftung“, erzählt sie.
Idyllische Wiesen mit Teich
Mit Gerschede (zur Bildergalerie) konnte sie sich sofort anfreunden. „Ich finde die Gegend wunderbar, sie hat so viel Grün“, schwärmt sie, als wir die Kopfweiden an der Gerscheder Straße passieren. Eindrucksvoll steht drüben der Gimpkenhof, davor idyllische Wiesen mit dem Teich unten in der Senke. „Leider sind heute keine Gänse und Enten da“, sagt Marianne Staudinger fast entschuldigend. Doch auch ein grauer Wintertag lässt ahnen, wie schnuckelig Gerschede im Sommer sein kann.
Das ist Essen-Gerschede
Rechts geht es hoch auf den Nordlandring. „Das rote Holzhaus gehört unserer Familie. Hier habe ich mit meinem Mann Heinz und unseren Söhnen Peter und Lothar gewohnt. Hinterm Haus hatte ich mein kleines Gewächshaus für meine Rosen“, erzählt sie weiter. Vor einigen Jahren hat sie das Haus der Familie ihres Ältesten überlassen und ist in die Krupp-Siedlung gezogen. Wer Marianne Staudingers neue Adresse nicht kennt, muss nur noch Rosen suchen – an der Askaristraße wird er fündig . . .
"Wie in einer Grafschaft"
Marianne Staudinger vergisst aber auch nicht die dunkle Zeit in Gerschede. Den braunen Terror hat sie direkt mitbekommen. „Es gab einen Widerstandskreis, und mein Vater war einmal in Haumannshof, dem Gefängnis hier“, weiß die 82-Jährige noch. Und als ob es gestern erst gewesen wäre, erzählt sie von ihrem Onkel, der sich völlig zerschlagen aus dem KZ Börgermoor im Emsland zurück nach Gerschede schleppte.
Geschichten, die sich nicht verdrängen lassen. Auch nicht durch die hübsche Umgebung. Pfingststurm Ela hat hier gewütet, ohne der Landschaft mit den tiefen Einschnitten ihren Charme zu nehmen. „Wir wohnen hier im Grünen und sagen immer: ,Wie in einer Grafschaft’.“ Eine überraschende Beschreibung, doch Marianne Staudinger schwärmt weiter: „Ich finde das Urige hier so schön. Der Bach fließt wie er will.“ Am Bachufer sind die Kinder früher gerodelt.
Und dann sind wir schon am Wilmsweg, einer Bergmannssiedlung, in der nur noch der Briefkasten in luftiger Höhe mit der Aufschrift „Air-Mail“ an längst vergangene Brieftaubenzucht erinnert.
Seniorenbegegnungszentrum im Schulkeller
Um die Ecke, in einem der sicherlich nicht für kleines Geld aufgehübschten Häuser, wohnte der ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete Ludwig Wördehoff. Sein Buch über die Borbecker Straßennamen erklärt die Geschichte von Südseestraße, Tangabucht oder Askaristraße – alles Namen aus der mehr oder weniger glorreichen Kolonialzeit.
Zurück führt der Spaziergang dann an der Grundschule vorbei. Auf dem Schulhof toben die Kinder, draußen warten schon die Mütter, und im Keller hat die Arbeiterwohlfahrt ihr Seniorenbegegnungszentrum eingerichtet. An der Paulus-Kirche vorbei erreichen wir wieder die Askaristraße, in diese schön renovierte, aber offenbar auch nicht billige Siedlung.
Doch Marianne Staudinger erwähnt nur am Rande, wie sehr die Miete von 650 Euro ihre gar nicht so schlechte Rente auffrist. Denn beschweren möchte sie sich nicht. Dafür fühlt sie sich in ihrem Gerschede dann doch zu wohl.
Gerschede: Stadtteilwappen, Brezelschlagen und S-Bahn-Station
Das Stadtteilwappen: 1220 erstmals als Gertschede erwähnt, deutet „Gert“ auf ein langstieliges, spitzes Gewächs, bzw. „Ger“ auf eine spitze Waffe hin, die auch im Wappen aufgegriffen werden. Gerschede gehörte früher zum Stift Essen – damals wurde in der Pausmühle, die erst 1970 stillgelegt wurde, das Korn für die Äbtissinnen gemahlen. Das Dorf Gerschede entwickelte sich entlang der Schmalenbecke, die nördlich der heutigen Triftstraße in der Grünanlage Mayskamp entspringt. Hier lag einst der Hof des Bauern Mey, der zu den ältesten Höfen von Gerschede zählte und schon 1668 genannt wird.
Essener Stadtteilwappen und ihre Bedeutung
Typisch Gerschede: Das Brezelschlagen mit anschließender Königinskrönung ist typisch für die Siedlung an Stratmanns Hang. Zum ersten Mal wurde es nach Angaben der Siedlergemeinschaft im Jahre 1935 gefeiert. Kinderreiche Familien wollten mit ihrem Nachwuchs ein paar fröhliche Stunden verbringen. Beim Bäcker Rosen wurde eine große Brezel bestellt und durch eine Draht-Verschalung auf einem Brett befestigt. Dieses wurde mit einem Seil über einen Kirschbaummast hochgezogen. Das baumelnde Brezel musste nun abgeschlagen werden. Wer den letzten Krümel abschlug, wurde Brezelkönig und wählte sich seine Königin aus.
S-Bahn-Station: So klein Gerschede auch ist, aber am S-Bahn-Haltepunkt stoppt die S-Bahn-Linie 9 in jeder Richtung drei Mal pro Stunde. Nach Süden fährt sie über Essen-Hauptbahnhof und Velbert bis nach Wuppertal, und nach Norden bis nach Haltern am See. Erfreulich, dass der Haltepunkt im Stationsbericht des Verkehrsverbundes recht gut abschneidet, im Vergleich zum Vorjahr sogar wieder besser. Minuspunkte bekommt er lediglich durch die Graffiti im Bereich des Bahnsteigs. Dass er einen Aufzug besitzt, werden besonders die älteren Fahrgäste zu schätzen wissen.
Amtlich Statistik zum Stadtteil Gerschede:
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