Siegen. In der Pandemie müssen sich viele Siegen-Wittgensteiner beruflich neu orientieren. Einige realisieren langgehegte Träume, andere stehen vorm Aus.
Es herrscht Wechselstimmung, teilweise. Im Durchschnitt hat sich die berufliche Lage der Menschen in Siegen und im Siegerland während der Corona-Krise verschlechtert. Mit der Note 3,53 haben die Siegener Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Corona-Checks dieser Zeitung ihre Arbeitssituation bewertet, in den anderen Kommunen des Siegerlandes beträgt der Wert 3,42. Insbesondere Menschen, die in der Gastronomie und im Einzelhandel arbeiten, sind von der Krise getroffen worden – aber es gibt auch Branchen, die händeringend Personal suchen.
Vor allem Arbeitnehmer zwischen 41 und 60 Jahren sind überdurchschnittlich stark von einer beruflichen Verschlechterung betroffen (siehe Grafik). Für Siegen wird in dieser Altersgruppe mit 3,61 ein Wert angegeben, der deutlich über dem Mittelwert (3,34) des Gesamtverbreitungsgebiets dieser Zeitung liegt. Während das Umland insgesamt leicht besser abschneidet – aber immer noch schlechter als der Südwestfalen-Durchschnitt – sind es insbesondere in Siegen auch jüngere Menschen, die die Pandemie beruflich belastet, bei den Unter-40-Jährigen geben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen Mittelwert von 3,56 an. Und: Frauen fühlen sich mit einer Gesamtnote von 3,59 tendenziell auch nicht als Krisengewinnerinnen.
Arbeitgeber in Siegen-Wittgenstein investieren wieder in Personal
Während es in manchen Bereichen kaum den Wunsch nach beruflicher Veränderung gebe, beobachten die Experten der Siegener Agentur für Arbeit diesen Trend für andere Branchen verstärkt. „Gerade in der Gastronomie haben sich viele Bewerber umorientiert“, sagt Nina Appel, Pressesprecherin der Arbeitsagentur. Und zwar in Richtung Industrie oder Lebensmitteleinzelhandel – beides Branchen, die Arbeitskräfte suchen. Auch beispielsweise Personen, die im Modeeinzelhandel gearbeitet hatten – lange eine äußerst wacklige berufliche Basis – fragten verstärkt nach Beratung, berichtet Appel. Wenig verwunderlich haben die Wirtschaftszweige am stärksten mit Abwanderungstendenzen zu kämpfen, die im Lockdown ein monatelanges de-facto-Berufsverbot hatten. „In den Bereichen, die komplett zu waren, gibt es den größten Wechselwillen.“
Auf Arbeitgeberseite wird seit einigen Wochen die Suche nach Personal wieder intensiviert (wir berichteten). In erster Linie betrifft das zwar hochqualifizierte Fachkräfte und ganz besonders IT-Fachleute, die auch vor Corona schon knapp waren. Insgesamt ist der Fachkräftemangel deutlich spürbar, aber auch für angelernte Tätigkeiten würden Leute gesucht, „zum Großteil über Zeitarbeitsfirmen“, so Nina Appel.
Wechselwille in Siegen-Wittgenstein branchenabhängig: Unsichere Zukunftsaussichten
Detlef Ochel, Inhaber der Personalberatung Ochel Consulting, berichtet ebenfalls von einer sehr starken Nachfrage nach qualifizierten Fach- und Führungskräften, die Zahl der Vakanzen habe deutlich zugenommen. Unternehmen seien gut beraten, vieles, was in den vergangenen 14 Monaten liegen blieb oder aufgeschoben wurde, nun nachzuholen, sich um Altersnachfolgen zu kümmern etwa. Dabei empfiehlt er, durchaus auch auf erfahrene Kräfte über 50 zu setzen, „hier übersieht man meines Erachtens ein sehr großes Potenzial.“ Denn mit 50 stehe man einem Unternehmen potenziell noch über 15 Jahre konstant zur Verfügung – und Menschen in dieser Altersgruppe seien überaus unternehmenstreu. Von einem guten Altersmix profitiere auch die Unternehmenskultur und die Zusammenarbeit im Team, weil sich unterschiedliche Stärken und Kompetenzen im Idealfall ergänzen können.
Es kommt allerdings eben auf die Branchen an, sagt Nina Appel. Bei den Akademikern sei kaum Bewegung erkennbar – die unsicheren Zukunftsaussichten während der Pandemie würden den Wunsch nach beruflicher Veränderung ohne Not eher ausbremsen. „Zukunftsangst überdeckt den Mut, Karrierechancen zu ergreifen“, sagt auch Detlef Ochel.
Es gibt in Siegen und Umgebung viele positive Beispiele für Job-Neustart
Gleichzeitig sei die Bereitschaft zur Qualifikation gerade in der durch die Pandemie deutlich forcierten Digitalisierung gestiegen, die Arbeitsagentur erhält zunehmend Anfragen zur Weiterbildung. „Da ist einiges in Bewegung geraten“, sagt Nina Appel. Im Rahmen des Kurzarbeitergeldes, das Weiterqualifizierung ebenfalls grundsätzlich ermöglichte, sei das aber weniger ein Thema gewesen – die Unternehmen hätten ihren Belegschaften das zwar grundsätzlich ermöglicht, aber es sei in der allgemeinen Unsicherheit wohl kein Fokusthema gewesen, „da gab es größere Probleme.“
Es gibt durchaus die – völlig wertfrei – „Krisengewinner“. Beispiele dafür gibt es auch in der Region viele; der Gastronomiebetrieb „Gusto Puro“ in der Siegener Oberstadt etwa, der quasi in die Pandemie hinein eröffnete und sofort auf unkomplizierte Online-Services und Lieferdienste setzte. Oder das Startup „MapAds“, das Einzelhändler für die Kundschaft vor Ort im Netz sichtbar macht. Christian Kolbe änderte Namen und Konzept seines Kreuztaler Restaurants und konzentrierte sich mit „Crossvalley Burgers“ auf Speisen zum Mitnehmen – mit großem Erfolg. Ebenso Hundetrainer Jens Küther, der seine Theoriestunden digital anbietet und damit einige Resonanz erfährt.
Corona führt auch in Siegen zum Scheitern beruflicher Karrieren
Auch viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Corona-Checks berichten von ungeplanten, erzwungenen, oft komplizierten, aber letztlich positiven beruflichen Veränderungen während der Pandemie. Ein Siegener Bühnenarbeiter, Veranstalter und DJ musste sein Gewerbe abmelden, wechselte in den Impf-Termin-Service NRW und fand so großen Gefallen an dieser Arbeit, dass er überlegt, im Bereich Telekommunikation zu bleiben. Stewardess Anne-Lina Heinen suchte sich weitere Jobs, arbeitete als Stylistin, wechselte dann ins Testzentrum an der Siegerlandhalle und fand darin Erfüllung.
Aber wenigstens genauso viele Menschen berichten davon, wie sie aufgrund der Corona-Maßnahmen im Job vor dem Aus stehen. Eine Tätowiererin aus Siegen erzählt, wie sie trotz umfangreicher Investitionen in Hygienekonzepte kaum arbeiten durfte und wie viele andere Selbstständige die knappen Rücklagen immer weiter schmolzen. Viele verloren ihren Job, verzweifelten zunehmend.
Arbeitnehmer aus Siegen-Wittgenstein berichten von gestiegener Arbeitsbelastung
Und auch die, die sich zwar keine Sorgen um ihre Arbeit machen mussten, aber in Bereichen arbeiten, wo die Arbeitsbelastung stetig stieg, berichten: Lehrerinnen und Lehrer, Angestellte im Lebensmitteleinzelhandel, Pflegekräfte. „Noch eine Pandemie werden viele als Arbeitnehmer im Krankenhaus bestimmt nicht mehr erleben wollen“, berichtet eine Krankenschwester aus Freudenberg. „Als Medizinische Fachangestellte kämpfe ich seit über einem Jahr an vorderster Front“, erzählt eine Frau aus Kreuztal. „Ich würde mir und meinen Kolleginnen mehr Anerkennung wünschen. Es wäre schön, wenn die Menschen mal sehen würden, was wir tagtäglich leisten müssen.“
Der Corona-Check Siegen und Siegerland
Lesen Sie auch die bisherigen Folgen zum Corona-Check für Siegen und das Siegerland:
Thema Homeoffice: Frauen doppelt belastet.
Privatleben: Familie und Homeoffice unter einem Dach.
Gesundheit: Mehr Therapiebedarf durch Homeoffice.
Prognose: Wie viele bleiben beim Homeoffice?
Thema Wohnen: Jeder Fünfte in Siegen will umziehen.
Thema Schule: „Befriedigend“ durch die Pandemie.
Schulberatung: Das Mobbing kehrt zurück.
Nachhilfe: Mathe ist am schlimmsten.
Soziale Folgen: Uni Siegen unterstützt bei Pandemie-Bewältigung.
Thema Kultur: Wenn sie fehlt, fehlt ein Stück Leben.
Kommentar: Kultur ist kein verzichtbares Luxusgut.
Thema Krisenmanagement: In der Krise aus Überzeugung entscheiden.
Von der Wissenschaft lernen: Aus Fehlern lernen, Krisenkommunikation verbessern.
Heimische Abgeordnete: Was sie zu Krise und Kommunikation sagen.
Thema Einzelhandel und Zentren: Angst vor Verödung.
Kommentar: Einzelhandel bedeutet nicht nur Konsum.
Der Corona-Check:Einblick in die Gemütslage der Menschen.
Siegen und das Siegerland: Angst, Wut, Hoffnung.
Die Umfrage: Das hat Corona mit den Menschen gemacht.
Alle Ergebnisse für die Städte und Kreise.
Und eine Siegenerin, die im Supermarkt arbeitet sagt: „Wir waren mit die einzigen, die jeden Tag da waren, egal wie die Situation war. (...) Aber wenn es ums Impfen geht, sind wir die Deppen, die man schön nach hinten schieben kann.“ Eine Frau aus Hilchenbach erzählt von der Belastung durch unverschämte Kunden und die Unsicherheit, sich mit vielen Menschen in einer Filiale aufzuhalten. „Aber anscheinend sind wir ja nicht so wichtig“, bestätigt eine Kollegin von ihr aus Siegen.
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