Siegerland. Die Menschen in Siegen und Umgebung machen sich in der Coronakrise Sorgen um die Innenstädte. Viel verändert sich – und Prognosen sind schwierig.

Die Siegerländer befürchten wegen der Corona-Krise einen Niedergang der Innenstädte. In unserem Corona-Check wurde die Frage „Wie groß ist Ihre Sorge bezogen auf eine Verödung der Innenstadt?“ im Schnitt mit 3,75 bewertet – die schlechteste Note wäre 5 („extrem“), die beste 1 („minimal“). Die Siegenerinnen und Siegener sind dabei noch etwas pessimistischer (3,85), als die Menschen in den sieben anderen Städten und Gemeinden im Siegerland es im Schnitt sind (3,65).

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Auffällig ist, dass die Beurteilung in unserem Corona-Check geschlechts- und altersunabhängig sehr ähnlich ausfällt, dass das Problem also quer durch die Bevölkerung hinweg als ähnlich brisant bewertet wird. Das gilt auch im Vergleich zu den Ergebnissen aus anderen Regionen und Städten, in denen diese Zeitung erscheint – und zur Einschätzung von Fachleuten, bei denen wir nachgefragt haben. Was sich dabei abzeichnet: Es gibt kein Patentrezept, um die Verödung zu verhindern. Aber es gibt einen großen Handlungsbedarf, es intensiv zu versuchen.

Siegen und Umgebung: Welche Probleme die Innenstädte in der Corona-Krise haben

Die Industrie- und Handelskammer (IHK) Siegen befürchtet, dass nach der Krise einige Lichter in den Innenstädten nicht wieder angehen werden. „Die Zentren werden anders aussehen“, so die düstere Prognose von Hauptgeschäftsführer Klaus Gräbener. Unter anderem auch deshalb, weil sich im Dauer-Lockdown das Kaufverhalten der Kundschaft verändert habe. Und es sei fraglich, ob sich alle Betriebe wirtschaftlich von den Pandemiefolgen erholen würden: Sie hatten Ware eingekauft, die sie dann nicht loswurden, in Kombination mit den massiven Umsatzeinbrüchen (etwa 25 Prozent) hätten viele nun schlicht kein Kapital mehr, um neue Waren zu kaufen. „Mit ‚bitter‘ ist das kaum noch zu beschreiben“, sagt Klaus Gräbener.

Gleichzeitig liege die Sparquote der Menschen derzeit bei rund 17 Prozent, üblicherweise betrage sie um die 10 Prozent. „Das Kapital ist da, kann aber nicht gebunden werden. Die Unsicherheiten sind zu groß.“ Die IHK rechnet zwar durchaus mit Aufholeffekten, das habe man beispielsweise in England oder den Niederlanden gesehen, wo es wahre Anstürme auf Gastronomie und Handel gab, als die wieder öffnen durften. „Aber wie dauerhaft wird das sein?“, fragt Klaus Gräbener. Und reicht das, um die Verluste halbwegs auszugleichen? Zumal langfristige Effekte derzeit noch gar nicht absehbar seien. In Kfz-Werkstätten beispielsweise werde die veränderte Mobilität der Menschen spürbar – es wurde weniger gefahren, entsprechend weniger Verschleißteile mussten seit Pandemiebeginn ausgetauscht werden. „Das schwappt nicht auf Vorkrisenniveau zurück“, vermutet Klaus Gräbener.

Siegen und Siegerland: Menschen gewöhnen sich in der Pandemie ans Online-Shopping

Schwierigkeiten hatte der stationäre Einzelhandel angesichts der Online-Konkurrenz schon vor der Pandemie. Seit deren Ausbruch aber hat sich die Entwicklung deutlich beschleunigt, weil Bestellen im Internet an Bedeutung noch einmal massiv gewonnen hat. „Es ist für viele von uns so normal geworden, online einzukaufen“, sagt Prof. Hanna Schramm-Klein, Lehrstuhl für Marketing an der Universität Siegen und Expertin für das Thema Einzelhandel. Ob die Menschen von dieser Gewohnheit abrücken, wenn die Geschäfte wieder in den Vor-Krisen-Betrieb wechseln, sei fraglich.

Besonders hart träfen die Lockdowns individuelle Fachgeschäfte, die kein Onlineangebot haben – besonders dann, wenn sie online auch noch unsichtbar seien, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin. Es müsse noch nicht einmal ein eigener Webshop sein, „das kann man auch gar nicht erwarten“. Aber viele Läden hätten noch nicht einmal einen Online-Eintrag, keinen Hinweis darauf, dass es sie gibt und was sie bieten. Und für die meisten Kundinnen und Kunden „beginnt die Recherche online“.

Siegen und Umgebung: Lockdowns beschleunigen den Wandel der Innenstädte

Einzelhandel, da ist Siegens Stadtbaurat Henrik Schumann sicher, wird immer Teil der Innenstädte bleiben – auch wenn die Verbindung „Innenstadt = Shopping“ nicht mehr so unumstößlich in Stein gemeißelt sei, wie es jahrzehntelang der Fall war. Von daher sieht der Stadtbaurat nicht das Ende nahen, aber das Erfordernis, sich dem Wandel, der in der Corona-Krise noch mehr Fahrt aufnimmt, zu stellen: Der Digitalisierung. „Nach wie vor gibt es da aber bei vielen eine Verweigerungshaltung.“

Darüber hinaus sehen sich viele Geschäftsleute eher als Einzelkämpfer, weniger als Teil einer Einzelhandelslandschaft. Zusammenarbeit, um im Verbund stärker auftreten, Aktionen auf die Beine stellen und ein gemeinsames Image beispielsweise für eine Straße oder ein Quartier ausprägen und kommunizieren zu können, sei im Handel weniger verbreitet als etwa in der Gastronomie, sagt Henrik Schumann.

IHK Siegen: Gefragt ist der Mut, zu experimentieren

„Wir haben auch nicht den Stein der Weisen“, betont Klaus Gräbener von der IHK. Wie die Entwicklung tatsächlich weitergehen wird, ist schwer einzuschätzen – weil derzeit niemand weiß, wie genau sich die Menschen nach dem Ende der Corona-Krise und dem Wegfall der damit verbundenen Beschränkungen verhalten werden. Die IHK hüte sich folglich davor, irgendwen belehren zu wollen, sagt der Hauptgeschäftsführer.

Es gebe aber einige große Linien, die im Blick zu haben vielversprechend sei: „Schönes erhalten“ – und ausbauen, um Aufenthaltsqualität zu schaffen; Leerstände nicht gezwungenermaßen immer mit neuen Geschäften füllen, sondern attraktive Alternativen, die ebenfalls Frequenz bringen, in Betracht ziehen: etwa Bildungsangebote, Kultureinrichtungen, Galerien oder Bibliotheken; und Mut, zu experimentieren, denn „nichts tun wäre das Grottenfalscheste“.

Siegener Expertin Prof. Hanna Schramm-Klein: Der Mix macht die Innenstadt

Künftig wird es noch mehr als bisher auf die Mischung ankommen, damit stationärer Einzelhandel sich behaupten kann. Das gilt in zweierlei Hinsicht, wie Prof. Hanna Schramm-Klein erläutert:

Im Kollektiv. Der Mix aus Ketten und individuellen kleineren Läden muss stimmen. Einerseits dürften die großen Marken nicht fehlen, andererseits muss es Geschäfte geben, die auf ihre Art einzigartig sind, um einer Innenstadt ein spezifisches Gesicht zu geben. Anders ausgedrückt: Innenstädte, die wie geklont wirken, sind in ihrer Austauschbarkeit keine beliebten Ziele.

Individuell. Geschäfte mit standardisierten Sortimenten hätten es besonders schwer, sagt Hanna Schramm-Klein. Wenn es Artikel überall zu kaufen gebe, bestehe nämlich kaum ein Grund, einen spezifischen Laden aufzusuchen – erst recht nicht, wenn sich online Preise vergleichen ließen. Aussichtsreicher seien Konzepte, in denen der Händler oder die Händlerin für die Kundschaft ein Sortiment bereithalten, dass aus dem riesigen Gesamtangebot mit einer eigenen Note zusammengestellt ist und „das den Laden von anderen unterscheidet“. Die Kundinnen und Kunden kommen dann, weil sie eine klare Erwartung vom Angebot haben und Inspiration suchen – und weil ihnen die Vorauswahl eine ewig lange Recherche online, im Zweifel auch noch auf zig verschiedenen Seiten, erspart.

Siegener Baurat: Stadtentwicklung ist längst interdisziplinäre Aufgabe

Verwaltung. Von einer „Renaissance“ des inhaber-geführten Einzelhandels geht auch Stadtbaurat Henrik Schumann aus. Die Stadt könne eine positive Entwicklung unterstützen, „indem wir dafür sorgen, dass der öffentliche Raum attraktiv ist“. Genau das haben die Bauprojekte der vergangenen Jahre, der Gegenwart und der näheren Zukunft zum Ziel, ebenso Maßnahmen wie beispielsweise die Gestaltungssatzung für die Innenstadt.

Die Aufgabe, ein Quartier interessant zu machen, sei längst eine übergreifende Aufgabe, weil dabei außer der Wirtschaftsförderung unter anderem auch Kultur, Architektur und Grünanlagen und Marketing große Bedeutung hätten. Ziel: Den Besuch in der Innenstadt über Shopping hinaus zum Erlebnis machen – in einem Ausmaß und einer Vielseitigkeit, die der Onlinehandel nicht bieten kann.

Siegen-Mitte hat dank „Uni (kommt) in die Stadt“ gute Perspektiven

Wie auch immer sich der Einzelhandelsstandort entwickelt: Siegen hat eine Besonderheit, die eine Verödung der Innenstadt unwahrscheinlich macht. Der Umzug zweier weiterer Fakultäten der Uni ins Zentrum sei „ein Jahrhundertgeschenk“, sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Klaus Gräbener. Auch Siegens Stadtbaurat Henrik Schumann unterstreicht die Chancen: „Da haben wir es besser als andere Städte, die keine Uni haben.“ Es geht nicht nur darum, dass der Raumbedarf der Uni viele Leerstände füllen wird, sondern auch um die Effekte, die die Präsenz tausender Studierender und hunderter Beschäftigter nach sich ziehen.

Einzelhandel und Gastronomie werden sich auf die neue Klientel einstellen, diese wiederum wird entsprechende Nachfrage mitbringen. Aber es wird nicht so sein, dass die Studierenden unter sich bleiben, ist Henrik Schumann überzeugt. „Junge Menschen beleben eine Stadt“, sagt der Baurat. Dadurch entstehe Atmosphäre, die alle Altersgruppen zu schätzen wüssten. So werde zusätzliche Frequenz entstehen.

Ein weiterer Faktor, der für die Innenstadt hoffen lässt: Einzelhandel ist bei Gründerinnen und Gründern sehr beliebt, wie Prof. Hanna Schramm-Klein erläutert. Selbst wenn einige bestehende Geschäfte die Krise nicht überstehen würden – so hart das für den Einzelnen ist – stünden die Zeichen gut, dass Neues entstehen werde.

+++ Kommentar zum Thema: Einzelhandel bedeutet nicht nur Konsum +++

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