Siegerland. Corona-Check: In Siegen und im Siegerland vermissen die Menschen kulturelle Angebote während der Pandemie mehr als andernorts. Aus guten Gründen.

Es geht nicht nur um Musik, um Kunst oder Comedy. Es geht um mehr. Die Menschen im Siegerland vermissen in der Pandemie den Besuch von Kulturveranstaltungen mehr als andernorts – das ist eines der Ergebnisse des Corona-Checks dieser Zeitung. Eine lokale Besonderheit dabei: Männer gaben diese Antwort signifikant häufiger als Frauen. Dieser Befund überraschte die Redaktion – und alle Fachleute, mit denen wir darüber sprachen.

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In Siegen gaben 44,4 Prozent der befragten Frauen und 50,9 Prozent der Männer „Kulturveranstaltungen“ bei der Frage „Was vermissen Sie besonders?“ an. In den übrigen sieben Siegerländer Kommunen waren es zusammen 42,8 Prozent der Frauen und sogar 57,1 Prozent der Männer. Im Schnitt aller Städte im Verbreitungsgebiet dieser Zeitung liegen Frauen (45,8 %) und Männer (44,8 %) in dieser Frage nicht nur deutlich enger zusammen – das Verhältnis ist auch umgekehrt. Auffällig ferner: In Siegen und im Siegerland bedauern häufiger Menschen unter 40 und über 60 Jahren den erzwungenen Verzicht auf Kulturveranstaltungen; im Verbreitungsgebiet insgesamt trifft dies vor allem auf die Altersgruppe 41 bis 60 Jahre zu.

Apollo-Theater Siegen: Publikum wartet in der Pandemie auf die Nachholtermine

„Wir haben viele Mails und Zuschriften bekommen“, sagt Magnus Reitschuster, Intendant des Apollo-Theaters. „Viele schreiben, wie sehr sie das Theater vermissen: Nicht nur die Vorstellungen.“ Rund 25.000 Karten seien für die laufende Spielzeit verkauft worden für Veranstaltungen, die noch nicht stattfinden konnten – und etwa 90 Prozent der Leute würden diese Tickets weder spenden noch zurückgeben, sondern für die Nachholtermine aufheben. „Ich glaube, die Lust, wieder ins Theater zu kommen, ist riesengroß“, sagt Magnus Reitschuster. Das Apollo dränge aber nicht auf schnelle Öffnungen. „Den Kurs, vorsichtig zu sein, finde ich richtig. Und das Publikum geht diesen Kurs mit.“

Kreuztalkultur erhalte vor allem dann Rückmeldungen, wenn Menschen Karten zurückgeben – meist nicht aus Desinteresse am Nachholtermin, sondern weil dieser nicht passt, erklärt Kulturamtsleiter Holger Glasmachers. „Die Leute finden es durch die Bank schade, dass Kultur nicht stattfinden kann.“ Es gehe nicht nur um die jeweiligen Inhalte, sondern um das ganze Drumherum, „um sehen und gesehen werden im positiven Sinne oder darum, ein Bierchen miteinander zu trinken“.

Kultur Kreuztal: Das Drumherum ist fast so wichtig wie die Veranstaltung selbst

Der Besuch eines kulturellen Ereignisses sei weit mehr als das Geschehen auf der Bühne. „Es geht schon zuhause los. Man plant den Tag anders, man macht sich schick, vielleicht ist man mit Freunden verabredet. Das wird schon ein bisschen zelebriert“, sagt Holger Glasmachers. Solche Begleitaspekte seien „fast so wichtig wie die Veranstaltung“.

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In Kreuztal sei das unter anderem klar geworden in den kurzen Phasen, in denen während der Pandemie Öffnungen erlaubt waren, aber ohne Gastronomie und Möglichkeiten der Begegnung – und den Besucherinnen und Besuchern etwas fehlte. Aus unserem Corona-Check zieht der Kulturamtsleiter einen sehr positiven Eindruck: „Das macht offensichtlich, dass Männer großes Interesse an Kultur haben“, vor allem in der Region. Dies widerspreche der verbreiteten Einschätzung, „die Frauen schleppen die Männer nur mit“ – und sei ein gutes Zeichen.

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„Die Leute warten sehnsüchtig darauf, dass wieder etwas stattfinden kann“, sagt Cornelia Oerter, Geschäftsstellenleiterin des Heimhof-Theaters Burbach. Bei den wenigen Veranstaltungen im vergangenen Herbst „haben wir sehr dankbare Menschen empfangen. Und wir erlebten sehr dankbare Künstler.“ Die Streamings aus dem Theater – in der Reihe „Der virtuelle Hut“ – würden zwar gut angenommen. Oft komme aber der Hinweis, wie sehr die Leute der Teilnahme vor Ort entgegenfiebern. „Sich gemeinsam über etwas freuen, gemeinsam etwas genießen: Das fehlt im Stream“, sagt Cornelia Oerter. Das Team hoffe nun nur, „dass die Leute sich auch wieder trauen zu kommen, wenn es irgendwann wieder voll ist.“

Kultur Pur auf dem Giller: Liveerlebnis lässt sich nicht digitalisieren

„Wir merken das auch im Verein sehr: Dass die Leute wieder Lust auf Veranstaltungen haben“, sagt Elena Valk, Geschäftsführerin des Kulturforums Netphen. Eine Ausstellungseröffnung im Oktober habe eindringlich vor Augen geführt, wie einschneidend die Situation ist. Die Vernissage fand mit nur 15 Personen statt, alle natürlich mit Maske. „Das ist nicht der Rahmen, um so etwas zu feiern“, konstatiert Elena Valk. Das Beieinander fehle, „mal ein Schwätzchen halten“.

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Kultur Pur werde von vielen schmerzlich vermisst, weiß Festivalleiter Jens von Heyden aufgrund der Rückmeldungen – gerade, weil es das zweite Mal in Folge ausfällt, „schon ein Schlag in die Magengrube“. Kulturveranstaltungen, ob auf dem Giller oder im Lyz, böten so viel mehr als Unterhaltung: „Entspannen, neue Anstöße, mal dem Alltag entkommen“. Und digitale Ersatzformate, so gut sie auch gemacht seien, könnten nie mit dem Liveerlebnis mithalten. „Denn genau darum geht es: dass Kultur die Menschen zusammenbringt, sie sich treffen, gemeinsam etwas erleben. Das fehlt besonders.“ Gerade für Männer sei das bei Kulturveranstaltungen ein wichtiger Aspekt.

Bruchwerk-Theater Siegen: Der Austausch fehlt Künstlern und Publikum

„Wir wurden über die Zeit viel angesprochen“, berichtet Tim Lechthaler vom Bruchwerk-Theater in Siegen. Die Live-Streams seien sehr begrüßt worden, „aber das Vorbeikommen vermissen viele“. Die Chats während Live-Schalten hätte das Online-Publikum genutzt; doch was fehle, sei der Austausch nach den Stücken, „der auch für uns als Produzierende sehr wichtig ist“. Die Zuschauergespräche vor und nach den Aufführungen im Bruchwerk seien live immer gut frequentiert gewesen, der Wunsch danach da – und das entfalle nun weitgehend.

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Der Siegener Kunsttag am 9. Mai habe illustriert, wie sehr Menschen kulturelle Angebote fehlen, wie Jennifer Cierlitza, Geschäftsführerin des Kunstvereins Siegen, feststellt. Zu dieser Zeit war in Siegen-Wittgenstein die Notbremse noch in Kraft, Leute seien betrübt gewesen, dass sie die Ausstellung im Haus Seel – „Window Shopping“ von Eva Berendes und Alexandra Leykauf – nicht betreten durften; der Kunsttag fand diesmal als Open-Air-Aktion statt. „Es waren zum Beispiel auch Leute aus Marburg da“, sagt Jennifer Cierlitza; zweifellos nicht unüberwindbar weit entfernt, aber durchaus ein Stück zu fahren – mit der Begründung: „Bei uns ist nichts los. In Siegen schon.“

Museum für Gegenwartskunst Siegen: Menschen vermissen die unmittelbare Erfahrung

„Es geht auch um den Wert von kulturellen Einrichtungen als soziale Treffpunkte“, sagt Ann-Kathrin Drews, im Museum für Gegenwartskunst Siegen zuständig für Kunstvermittlung. Die Online-Angebote des MGK während der Lockdowns hätten Zulauf gehabt und positives Feedback erhalten, aber das Erlebnis, unmittelbar vor einem Kunstwerk zu stehen, lasse sich digital nicht adäquat nachbilden: „Die Menschen vermissen es, inmitten der Kunst zu sein.“

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Außerdem kommen Museumsbesucher oft in Begleitung – und selbst, wenn sie alleine in den Räumen unterwegs sind, bekommen sie doch immer die Reaktionen anderer Besucher auf die Exponate mit, kann sich immer mal ein Austausch ergeben. Ann-Kathrin Drews verweist bei der Bedeutung kultureller Einrichtungen auch auf das Alter der Nutzerinnen und Nutzer. Gerade diejenigen, die nicht mehr aktiv im Berufsleben stehen und deshalb die damit verbundenen sozialen Kontakte nicht mehr haben, hätten vielleicht „ein erhöhtes Bedürfnis nach Interaktion“ mit anderen. Dafür seien eben auch Ausstellungen ein gutes Forum. Aber die Lern- und Austauscherfahrung, die immer mit einem Kulturerlebnis verbunden sei, sei natürlich in jedem Alter wertvoll.

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