Siegen. Extrazeit: Stoff nachholen, lernen – und mehr. Die Uni Siegen begleitet auch beim Klettern, denn manche waren seit 8 Monaten nicht in der Schule

Seit zwei Wochen läuft die „Extrazeit“. Gruppen von acht bis 15 Kindern und Jugendlichen treffen sich in ihrer Freizeit, manche sogar samstags – zum Lernen. Aber nicht nur: Ob sie multiplizieren und schreiben üben, in einer Stadtrallye ihre Umgebung neu erkunden oder im Klettergarten ausprobieren, was sie sich und ihren Freunden zutrauen, ist Vereinbarungssache. Nötig haben sie nach den Lockdowns alles, was an Unterstützung möglich ist. Thomas Tigges vergleicht das Angebot mit einem „ganz großen bunten Blumenstrauß“. Zehn Schulen und Jugendtreffs – außer dem Gymnasium Netphen alle in Siegen – sind dabei.

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Bei den Erziehungswissenschaftlern an der Uni ist die Idee entstanden, sich an den „außerschulischen Bildungs- und Beratungsangeboten“ zu beteiligen; das Land hat auf Siegener Initiative eigens die Richtlinien für das Förderprogramm geöffnet, sodass auch die Hochschule Projektträger werden konnte. „Schüler, Eltern und Lehrer haben so viel geleistet“, sagt Carolin Quenzer-Alfred mit Blick auf die Pandemie, „das ist eine Chance, ihnen etwas zurückzugeben.“ Sie und Thomas Tigges sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Daniel Mays.

Kinder und Jugendliche aus Siegen froh über Kontakte

Die Schulen und Jugendtreffs sprechen die Kinder und Jugendlichen an, die die Unterstützung am nötigsten brauchen. 29 Mitarbeitende sind an Bord, Tandems aus Theorie und Praxis, zum Beispiel Studentin und Sozialarbeiter begleiten jeweils eine Gruppe von acht bis 15 Kindern. „Bedarf wäre an allen Schulen gewesen“, sagt Thomas Tigges, „das Angebot wurde uns aus den Händen gerissen.“ Und die Kinder haben alle Lust dazu? „Es geht ja nicht nur um die Vermittlung von Schulstoff“, sagt Carolin Quenzer-Alfred. „Manche waren seit acht Monaten nicht in der Schule“, erinnert Thomas Tigges, „die sind froh über Kontakte.“

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Melanie Lück, pädagogische Mitarbeiterin am Lehrstuhl, ist derzeit gemeinsam mit ihrer Kollegin Sarah Schmidt an einem Projekt in Geisweid aktiv, das den Übergang Kita-Schule unterstützt. Sie weiß, was die Pandemie mit den Kleinsten macht – außer ihnen das letzte Kita-Jahr zu nehmen und den bevorstehenden Wechsel in die unbekannte Schule mit Angst zu besetzen: Sprachliche Fähigkeiten leiden, und soziale Kompetenz: Ruhig sitzen können, anderen zuhören, mit ihnen freundlich umgehen. Sarah Schmidt nennt es „sozial-emotionale Überforderung“, wenn ein Kind auf die zig mal gehörte Frage, wie es ihm denn gerade geht, nicht mehr zu antworten vermag. Auch Bewegungsmangel hat Folgen, die Kinder nehmen zu. Betroffen seien oft, so Melanie Lück, „Kinder, die die sowieso schon mit Benachteiligung starten.“

Untersuchung nach dem ersten Lockdown: Kita-Kinder „nicht altersgerecht entwickelt“

Carolin Quenzer-Alfred hat Daten einer Untersuchung bei Kita-Kindern nach dem ersten Lockdown im April 2020: „Sie waren nicht altersgerecht entwickelt.“ Der Umgang mit Gleichaltrigen hat gefehlt. „Am dramatischsten haben wir das im Bereich der Sprache gesehen.“ Thomas Tigges, der auch Lehrer an einem Weiterbildungskolleg in Wuppertal ist, berichtet über seine Beobachtungen bei älteren Jugendlichen: Manche haben Schwierigkeiten, vor einer Gruppe zu sprechen, beobachten an sich selbst soziale Phobien, die sich im Lockdown aufgebaut haben. „Die Stillen werden noch stiller“, sagt Thomas Tigges. Und: „Einige von diesen Hemmnissen wird man kaum aufarbeiten können.“

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Ob die „Extrazeit“ bis zum Ende des Schuljahres läuft, entscheidet sich mit dem Landeshaushalt für 2022. 64.000 Euro sind nicht viel. Für eine wissenschaftliche Begleitung, was die Pandemie mit den Jüngsten gemacht hat, reicht das nicht. „Alles ist besser als nichts“, sagt Thomas Tigges – gemessen daran, dass das Bildungssystem „ein Jahr lang hinten runter gefallen“ sei. Melanie Lück fürchtet, dass Beeinträchtigungen bei den Kindern bleiben, denen zu Hause nicht geholfen werden kann, „möglicherweise ein Leben lang“. Die Unterstützung der „Generation C“, wie Thomas Tigges sie nennt, müsse auch über das Schuljahr hinaus Thema bleiben, fordert Melanie Lück: „Wir wünschen uns alle, dass das auf der Tagesordnung bleibt.“