Siegen/Freudenberg. Zwei fast Gleichaltrige haben die zwölfjährige Luise getötet. Nun ist das Jugendamt gefragt: Die Kinder werden nicht sich selbst überlassen.
Die zwölfjährige Luise ist am 12. März in Freudenberg von zwei fast gleichaltrigen Mädchen umgebracht worden. Die Stadt ist aufgewühlt und trauert.
Daneben wurde die Frage nach den Konsequenzen für die tatverdächtigen 12- und 13-Jährigen laut, die nicht strafmündig sind. Für sie ist das Jugendamt des Kreises Siegen-Wittgenstein zuständig.
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„Wir haben nicht den Auftrag, zu bestrafen“, stellt Sozialdezernent Thomas Wüst klar. Jugendamtsleiterin Anissa Mahmood formuliert das Ziel der Kinder- und Jugendhilfe, „einen Rahmen herzustellen, der für die beiden Mädchen trotzdem eine Entwicklung ermöglicht – damit sie in ihrer Zukunft an der Gesellschaft teilhaben können“. Was in der Formulierung abstrakt klingt, hat konkretes Handeln zur Folge. „Die Arbeitsbelastung könnte für uns intensiver nicht sein“, sagt Anissa Mahmood. Wie und wo das Jugendamt seinen Anspruch einlöst, wenn die zeitlich befristete Krisenintervention vorbei ist? „Unsere Aufgabe wird es auch sein, die Fragestellung für die Minderjährigen unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls zu bewerten.“
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Mehr wird in dem folgenden Text über die Tatverdächtigen, ihre Tat und ihr Opfer nicht zu lesen sein. Im Gespräch mit Anissa Mahmood und Thomas Wüst geht es um Möglichkeiten, die das Jugendamt hat, um Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien bei besonderen Belastungen zu unterstützen.
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1. Beratung
Das erste Stichwort heißt „Beratung“. Familien, die Unterstützung brauchen, können sich an den Regionalen Sozialdienst (RSD) wenden. Der RSD – im Stadtgebiet Siegen: Allgemeiner Sozialdienst (ASD) – ist an das Jugendamt angegliedert. Die Kinder und Jugendlichen sowie ihren Familien können selbst, aber auch andere Beteiligte, wie zum Beispiel Schulen, den Anstoß für eine Beratung geben. Die Familiengerichte informieren den RSD, wenn eine Ehe geschieden wird und Kinder betroffen sind. „Wir unterbreiten Angebote, damit Konflikte gar nicht erst entstehen“, sagt Anissa Mahmood. Zum Beispiel, wie geschiedene oder getrennt lebende Elternteile den Umgang mit dem im anderen Haushalt lebenden Kind wahrnehmen können. Oder, wenn Erziehung vor Herausforderungen stellt: Besonderheiten in der Entwicklung, Pubertät, Umgang mit Medien.. Und auch, wenn Eltern sich untereinander nicht einig sind. „Wir versuchen mit den Eltern gemeinsam Lösungen zu finden - die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen ist dabei von besonderer Bedeutung.“ Da kann es auch mal „Hausaufgaben“ geben, die die Beteiligten auf dem Weg zur Konfliktlösung abarbeiten. Und „Vereinbarungen“, in denen festgehalten wird, wie ein Problem gelöst wird. „Die Möglichkeiten sind sehr individuell.“
Die Beratung ist dabei oftmals auch die Grundlage für die Hilfen zur Erziehung, die ebenfalls vom RSD beauftragt werden. In den Beratungsgesprächen teilen die Hilfesuchenden den Fachkräften ihre aktuellen Belastungen, aber auch ihre Ziele mit, die für die Wahl der Hilfe entscheidend sind.
2. Hilfen zur Erziehung
Das zweite Stichwort sind die „Hilfen zur Erziehung“, die dort einsetzen, wo Beratung durch den RSD, die Erziehungsberatungsstellen oder andere Fachberatungsstellen nicht ausreicht. Solche Hilfe wird angeboten, „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ – so steht es im Sozialgesetzbuch. Dass die Hilfen zur Erziehung immer stärker gefragt werden, sei „nicht zwingend ein schlechtes Zeichen“, findet Sozialdezernent Thomas Wüst. Ablesbar werde daran, dass Eltern selbst den Bedarf für Unterstützung besser erkennen. „Die Herausforderung ist die Freiwilligkeit“, weiß Anissa Mahmood: Die Beteiligten können sich jederzeit zurückziehen, auch wenn das verabredete Ziel nicht erreicht ist.
In Zahlen
84 Erziehungsbeistandschaften hat das Jugendamt des Kreises Siegen-Wittgenstein im Jahr 2022 geführt.
372 Familienhilfen wurden 2022 eingerichtet. Die Familien können mehrere Kinder haben.
739ambulante Hilfen zur Erziehung wurden 2022 insgesamt gewährt (2021: 674, 2020: 662, 2019: 652, 2018: 632).
491 Mal wurden 2022 stationäre Hilfen zur Erziehung eingesetzt (2021: 456, 2020: 454, 2019: 470, 2018: 492).
135 Hilfen für junge Volljährige wurden 2022 gewährt, davon 53 ambulant und 82 stationär (2021: 118, 2020: 133, 2019: 153, 2018: 175).
32 Hilfen zur Erziehung erreichten 2022 unbegleitete minderjährige Geflüchtete, je 16 Jugendliche und junge Volljährige. Die Zahl ist rückläufig, 2018 waren es noch 149.
48 Inobhutnahmen von Kindern wurden 2022 veranlasst – 706 Mal wurden Kindeswohlgefährdungen gemeldet. 2021 waren es 45 (bei 565 Gefährdungsmeldungen), 2020 wurden 69 Kinder in Obhut (515 Meldungen), 2019 waren es 68 (549 Meldungen), 2018 waren es 65 (544 Meldungen).
Erziehungsbeistandschaft: Die beauftragte Fachkraft erarbeitet zusammen mit dem Jugendlichen Ziele, die erreicht werden sollen. Da kann es um die Bewältigung von Schwierigkeiten in der Schule gehen oder andere Themen, für die der junge Mensch Unterstützung braucht. „Da sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt, sagt Jugendamtsleiterin Anissa Mahmood. Mindestens alle sechs Monate stehen Hilfeplangespräche aller Beteiligten an, „ob der Bedarf noch gegeben ist oder ob neue Ziele formuliert werden müssen“.Die beauftragte Fachkraft erarbeitet zusammen mit dem Jugendlichen Ziele, die erreicht werden sollen. Da kann es um die Bewältigung von Schwierigkeiten in der Schule gehen oder andere Themen, für die der junge Mensch Unterstützung braucht. „Da sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt, sagt Jugendamtsleiterin Anissa Mahmood. Mindestens alle sechs Monate stehen Hilfeplangespräche aller Beteiligten an, „ob der Bedarf noch gegeben ist oder ob neue Ziele formuliert werden müssen“.
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Sozialpädagogische Familienhilfe: „Die Supernanny ist der naheliegendste Vergleich, auch wenn man deren im Fernsehen getätigten Aussagen qualitativ sehr kritisch sehen kann“, sagt Anissa Mahmood. Die Unterstützung richtet sich nicht allein an Kinder oder Jugendliche, sondern an die Familie insgesamt. Auch hier werden die Ziele der Familie bearbeitet, die bei der Bewältigung von individuellen Problemlagen Unterstützung benötigen. Auch hier gilt, wie bei der Erziehungsbeistandschaft: Möglich ist alles, „was es für eine unbelastete Arbeitsbeziehung braucht“. Da können Gespräche auch mal bei einem langen Spaziergang geführt oder das Erziehungsverhalten bei einem gemeinsame Zoobesuch beobachtet werden. In der Regel geht es jedoch darum, das Zusammenleben im häuslichen Umfeld der Familie zu betrachten und zu strukturieren.
Sozialpädagogische Gruppenarbeit: Einmal oder mehrmals in der Woche treffen sich mehrere Kinder und werden bei gemeinsamen Gruppenaktivitäten fachlich begleitet. Die in der Regel unter 14-Jährigen üben, sich mit Gleichaltrigen auseinanderzusetzen, und sie bearbeiten Themen, die sie gemeinsam angehen. Dass Kinder sich schwer tun, angemessen miteinander umzugehen, „wurde durch Corona sicher verstärkt“, sagt Thomas Wüst. Meist sind die Jugendlichen, die an der Gruppenarbeit teilnehmen, vorher in der Schule aufgefallen: durch Stören, aggressives Verhalten – aber im Einzelfall auch mal dadurch, dass sie sich aus gemeinschaftlichen Aktivitäten zurück ziehen.
Fünftagesgruppe: Kinder und Jugendliche wohnen von montags bis freitags in einer Tagesgruppe und nur an Wochenenden in ihren Familien. Diese „teilstationäre“ Hilfe zur Erziehung soll Tagesstruktur herstellen und zum Beispiel bei der Bewältigung von Herausforderungen im Zusammenhang mit Schule und Freizeit unterstützen.
Vollzeitpflege: Das Kind wird in eine Pflegefamilie vermittelt – das können Fremde sein, aber auch Freunde oder Bekannte der Eltern oder ältere Geschwister. Pflegeverhältnisse – in der Regel für Kinder, die nicht älter als sechs Jahre sind – werden auf Dauer eingerichtet. Bei dieser „stationären“ Hilfe zur Erziehung, so Thomas Wüst, gehe es insbesondere darum, dem Kind dauerhaft Bindung, Sicherheit und Stabilität zu ermöglichen. Häusliche Gewalt, Suchterkrankungen, Vernachlässigung, Missbrauch - das können Gründe sein, aus denen ein Kind in eine Pflegefamilie vermittelt wird.
Heimerziehung: In diesen stationären Einrichtungen – meist Wohngruppen – arbeiten Fachkräfte. Hier leben in der Regel ältere Jugendliche, für die nicht mehr die Bindung an eine neue (Pflege-) Familie angestrebt wird. Und Jugendliche, deren Unterstützungsbedarf Pflegeeltern nicht erfüllen können – zum Beispiel durch Gewalt schwersttraumatisierte junge Menschen. Die Heimerziehung, so Thomas Wüst, könne auch der richtige Platz für jüngere Jugendliche sein, die nicht imstande sind, Bindungen einzugehen
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3. Inobhutnahme
Drittes Stichwort sind die Maßnahmen, die das Jugendamt auch gegen den Willen der Eltern ergreifen kann, wenn eine „Kindeswohlgefährdung“ – ein Fachbegriff aus dem Sozialgesetzbuch – erkannt wird. Zusätzlich zu den Hilfen zur Erziehung kommt nun auch die „Inobhutnahme“ – noch mal Sozialgesetzbuch – in Frage. Wenn Eltern nicht einverstanden sind, kann an ihrer Stelle das Familiengericht entscheiden, das Jugendamt als „Amtsvormund“ einsetzen, der dann zum Beispiel auch das „Aufenthaltsbestimmungsrecht“ für das Kind ausübt. Das klingt so einschneidend, wie es ist. „Es ist eine sehr tiefgreifende Maßnahme, ein Kind in Obhut zu nehmen“, sagt Jugendamtsleiterin Anissa Mahmood.
Hilfe gefragt
„Wir sind immer damit befasst, Krisen zu managen“, sagt Jugendamtsleiterin Anissa Mahmood über die Arbeit ihrer Kolleginnen und Kollegen. Nach der Tat in Freudenberg mache sich allerdings eine Veränderung im Verhalten von Eltern bemerkbar – vermehrt und früher würden jetzt Mobbing-Hinweise weitergegeben. „Das spüren wir jetzt“ – immer noch bleibe daher die Standleitung von der Polizei zum Jugendamt geschaltet.
Zugenommen hätten auch die Anforderungen von Schulen, die Prävention zu (Cyber-)Mobbing suchten: „Die Schulen melden gerade einen Riesenbedarf.“ Daraus könne die Notwendigkeit zu Interventionen durch das Jugendamt entstehen, zum Beispiel Gruppenarbeit zu Mobbing-Themen. Es bringt uns aktuell an unsere Grenzen, die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.“
„Eine Inobhutnahme setzt eine akute Gefährdung voraus“, sagt Anissa Mahmood – das kann sich darin begründen, dass Eltern ihre Erziehung nicht am Wohl ihrer Kinder orientieren, wie etwa durch Gewalt oder Vernachlässigung, oder im Verhalten der Kinder selbst begründet liegen, zum Beispiel bei Eigengefährdung. Neben Wohngruppen kann eine Kinder- und Jugendpsychiatrie der Ort sein, in der in Obhut genommene Kinder untergebracht werden. Für geschlossene Unterbringungen braucht es dabei aber immer einen richterlichen Beschluss. Ansonsten gilt, wie Thomas Wüst es formuliert: „Wir können Kinder in Obhut nehmen. Ob sie diese Maßnahme auch für sich als richtig erkennen und die Hilfe annehmen können, entscheiden sie selbst - Fachkräfte dürfen sie nicht festhalten oder ihren Widerstand körperlich überwinden.“
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Stimmen Eltern einer Unterbringung freiwillig zu, erspart das ein langes Verfahren mit Begutachtungen, die das Familiengericht vornehmen lässt. Sollte das Familiengericht am Ende dennoch zu der Entscheidung kommen, das das Kinde in die Familie zurückgeführt werden soll , kann das Jugendamt dagegen beim Oberlandesgericht Beschwerde einlegen.
Während – freiwillige – „Hilfen zur Erziehung“ als „Hilfe für junge Volljährige“ auch bis zum 21., ausnahmsweise bis zum 27. Lebensjahr gewährt werden, enden Inobhutnahmen mit der Volljährigkeit. Die „Jugendhilfe in Strafsachen“ greift bei strafmündigen Jugendlichen ab 14. Da kann – in Ausnahmefällen- die geschlossene Wohngruppe eine Alternative zur Haft sein.
In eigener Sache
Viele Menschen wollen wissen, wie die beiden Mädchen leben, die die zwölfjährige Luise in Freudenberg umgebracht haben. Wir müssen uns weiter zurückhalten – der Schutz der Bedürfnisse von Kindern wiegt auch hier schwerer als das öffentliche Interesse. Im Gespräch mit Thomas Wüst und Anissa Mahmood stellen wir deshalb, losgelöst von dem alle bewegenden Ereignis, an dieser Stelle die Möglichkeiten vor, die das Jugendamt hat und wahrnimmt, um vorzubeugen und einzugreifen. Auch damit nicht die Vermutung im Raum stehen bleibt, die Tat habe für die nicht strafmündigen Täterinnen keine Konsequenzen. Die hat es sehr wohl: Sie werden nicht aus dem Auge gelassen, bis sie wieder Tritt gefasst haben für ein Leben mit einer Schuld, die für immer auf ihnen lastet.
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