Hattingen. Tausende Zwangsarbeiter müssen im Zweiten Weltkrieg unter unmenschlichen Umständen in Hattingen leben. Juden werden vertrieben und deportiert.

Ein Schluck Wasser, zwei Weißkohlblätter und ein Stückchen Brot – das ist die erbärmliche Tagesration, die Arbeitern aus der Sowjetunion, Frankreich und Benelux-Ländern im September 1943 auf der Henrichshütte zugeteilt wird. Arbeiter? Nein, es sind Zwangsarbeiter, denn Hattingens Indus­trielle sind am größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt.

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2514 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter sind in diesem Monat auf der Hütte, die zu diesem Zeitpunkt der Ruhrstahl AG gehört, im Einsatz. Als Ersatz für die zur Wehrmacht eingezogene deutsche Belegschaft werden sie ohne jede Rücksicht ausgebeutet und gequält. Sie treiben sie in den Tod, den Freitod zumeist, denn viele wollen die widerwärtige Behandlung und die Gegenwart der Nationalsozialisten nicht ertragen. Andere sind an Unterernährung gestorben, anders gesagt: eingegangen.

Die Geschichte des Wladimir W.: misshandelt und ermordet

Wladimir W. (23) wird im Dezember 1944 misshandelt. Zunächst muss er sadistische Knüppel-Orgien der Gestapo (Geheime Staatspolizei) über sich ergehen lassen: Immer wenn er seine Baracke verlässt, wird er von den beiden Wachmännern an der Tür mit Knüppeln geprügelt – auch wenn er zurückkommt. Am Ende wird er von Gestapo-Männern in seinem Wohn­lager aufgehängt.

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Es gibt auf der Hütte mehrere Arbeitslager für Inhaftierte und Kriegsgefangene. Matratzen gibt es nicht, nur Strohsäcke oder Holzpritschen. Fast alle sind sie von Wanzen und Ungeziefer befallen, gearbeitet wird barfuß oder mit Fußlumpen. Einziges (wärmendes) Hab und Gut ist eine Uniform, in der nachts auch geschlafen wird.

10.000 ausländische Arbeiter in 60 Gemeinschaftslagern

In den Kriegsjahren leben insgesamt 10.000 ausländische Arbeiter in 60 Gemeinschafts-, Baracken- und Wohnlagern in Hattingen. Die meisten kommen aus der Sowjetunion, wie auch Pawel Michailowitsch Ljasch, der 2011 im Alter von 86 Jahren nach Hattingen in die Stadt seiner Peiniger zurückkehrt.

Pawel Michailowitsch Ljasch aus Dnjpropetrowsk besucht 2011 Hattingen, wo er ein halbes Jahr in einem Arbeitslager lebte.
Pawel Michailowitsch Ljasch aus Dnjpropetrowsk besucht 2011 Hattingen, wo er ein halbes Jahr in einem Arbeitslager lebte. © FFS | Olaf Ziegler

Für die Nazis ist er die Nummer 188. Sie haben sie ihm zugewiesen, haben ihm Namen und Menschlichkeit genommen. Zweimal gelingt ihm die Flucht – doch zweimal wird er wieder gefangen. Wo er gearbeitet habe, haben sie ihn gefragt: „Ich habe meinen Zug verpasst.“ Diese geschickte Lüge erspart ihm Drangsalierung und Folter. „Ich habe auch meinen Namen verändert oder mir einen neuen ausgedacht.“ Angst habe er keine gehabt, immer wieder zu fliehen. Warum auch, schlimmer als seine Lebensumstände hier könnte es nicht sein.

Noch mehr Zwangsarbeiter und jüdische Opfer

Doch nicht nur auf der Hütte müssen sich Zwangsarbeiter von den Schergen des NS-Regimes und der Industriellen quälen lassen, auch bei anderen Firmen wie den Gottwald-Werken und den Ruhrthaler Nieten- und Schraubenwerken werden sie ausgebeutet.

Dieses Bild zeigt Moritz Bruchsteiner (untere Reihe, Mitte) bei seiner Feier zum 25-jährigen Jubiläum auf der Henrichshütte
Dieses Bild zeigt Moritz Bruchsteiner (untere Reihe, Mitte) bei seiner Feier zum 25-jährigen Jubiläum auf der Henrichshütte © FFS | Repro: Svenja Hanusch

Niemals vergessen werden dürfen die Hattinger Juden, die Opfer der Nationalsozialisten sind. Die, die aus der Stadt und dem Land flüchten; die, die in Konzentrationslager deportiert werden; und die, die in den Tod getrieben werden. Zum Beispiel Moritz Bruchsteiner, der sich aus Schwermut das Leben nimmt, als er erfährt, dass er ins KZ gebracht werden soll. Am Morgen des 1. April 1942 nimmt der Klempner gegen Viertel nach fünf Abschied von seiner Frau, die sofort weiß, dass er nie zurückkehren wird. Am 26. April 1942 wird der Leichnam des ertrunkenen Hattinger bei Winz-Baak aus der Ruhr geborgen. Heute erinnert ein Stolperstein vor seiner Wohnung am Rosenberg 58 an Moritz Bruchsteiner.

Todesanzeige in der Zeitung „Heimat am Mittag“

Bei der Beerdigung schafft es die Familie, ein Zeichen des Widerstands gegen das NS-Regime zu setzen: Es gelingt, eine Todesanzeige in der „Heimat am Mittag“ zu platzieren, die die Aufnahme von jüdischen Anzeigen eigentlich längst ablehnt.

Katastrophale hygienische Bedingungen

Zivilarbeiter, Zwangsarbeiter, Ostarbeiter, Kriegsgefangene, Strafgefangene und KZ-Häftlinge kamen vornehmlich aus der Sowjetunion, aber auch aus Belgien, Frankreich, Holland, Italien, Kroatien, Polen, Serbien, Tschechien und Ungarn nach Hattingen.

Allein auf der Henrichshütte waren während des Zweiten Weltkriegs etwa 2300 Zivilarbeiter, 1000 Ostarbeiter, sowie 3500 Kriegsgefangene beschäftigt.

Im so genannten Wohnlager an der Marxstraße lebten bisweilen 2500 Belegschaftsmitglieder der Hütte unter katastrophalen hygienischen Bedingungen.

Auch Bruchsteiners jüngster Sohn Erich überlebt den NS-Horror nicht. In der Nacht zum 26. Januar 1945 wird er im Arbeitserziehungslager auf dem Hüttengelände auf bestialische Weise umgebracht. Vater und Sohn ruhen auf dem Katholischen Friedhof an der Blankensteiner Straße.

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