Hattingen. Auf und ab für Hattingen im 20. Jahrhundert: Die Henrichshütte floriert und versinkt, Nazis werden umjubelt – und es gibt jede Menge Gold!
Hattingen gönnt sich was: Nach der Grundsteinlegung anderthalb Jahre zuvor wird am 10. Dezember 1910 auf dem Pastorskamp das neue Rathaus eingeweiht. Mehr als hundert Gäste – fast ausschließlich Herren in festlicher Kleidung (Zylinderpflicht!) – sind bei der Feier dabei. Der Bürgermeister, ein Beigeordneter und vier Stadträte bilden den Magistrat – gemeinsam mit 24 Verwaltungsbeamten lenken sie nun von hier die Geschicke der Stadt.
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Dunkle Nazi-Wolken
Doch schon bald ziehen dunkle Wolken über den frischen Glanz: Im Zuge der Krisen der 1920er-Jahre radikalisieren sich die Bürgerinnen und Bürger und neigen immer mehr zu den politischen Extremen – auf der linken Seite zieht die kommunistische Bewegung Anhänger an, auf der rechten die NSDAP.
Joseph Goebbels spricht bereits zwischen 1925 und 1928 neunmal öffentlich in der Stadt, Hitler viermal. Mehr als tausend Besucher hören ihm zu, die Säle sind überfüllt – Hattingen ist den Nazis verfallen. 1932 erreichen die Nationalsozialisten 42 Prozent der Stimmen (Reich 37,4 %) – die Kommunistische Partei kommt auf 20,5 Prozent (Reich 14,6 %).
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Das Gymnasium an der Waldstraße wird in Adolf-Hitler-Realgymnasium umbenannt, 90 Prozent der Schüler sind Mitglied in der Hitlerjugend. Für die Erwachsenen sind Bespitzelung, Verfolgung und Terror der neue Alltag.
In der Reichspogromnacht wird auch die Hattinger Synagoge niedergebrannt, Juden werden in der Gewehrfabrik an der Ruhrbrücke ghettoisiert, mindestens 73 ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Zwangsarbeiter schuften auf der Hütte.
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Mehr als 1000 Männer aus der Stadt Hattingen sowie den Ämtern Blankenstein und Hattingen-Land sterben auf den Schlachtfeldern. In der Bombennacht vom 13. auf den 14. März 1945 werden unter anderem die untere Heggerstraße, das Krämersdorf und die Roonstraße nahezu völlig zerstört. 1200 Bomben werden über der Altstadt abgeworfen. 5000 Menschen finden Platz im Bunker am Reschop – hier wird in dieser Nacht Hans-Dieter Pöppe geboren – ein Lichtblick in dieser dunklen Zeit.
Hoch und Tief der Hütte
Nach dem Krieg verhindern Betriebsrat Willi Michels und NRW-Wirtschaftsminister Erik Nölting die Demontage der Henrichshütte. Wenig später floriert das Geschäft wie nie zuvor. 10.000 Menschen haben in den 1950er-Jahren in Welper ihren Arbeitsplatz.
Zwanzig Jahre später wird die Auftragslage mau. Kurzarbeit, Stellenabbau, das Schlimmste rückt immer näher – und am 18. Dezember 1987 ist der Ofen für immer aus. WAZ-Reporter Lutz Heuken schreibt dazu: „Um Punkt neun Uhr fließt am Freitag morgen das flüssige Eisen aus dem Hochofen Nr. 3 in die bereitstehenden Torpedowagen. Nach einer knappen halben Stunde tröpfelt die glühende Lava nur noch. Dicker Dampf steigt auf, das Ungetüm stöhnt. Gebannt starren viele hundert Arbeiter der Hattinger Henrichshütte auf die schwarze Silhouette vor dem grauen Dezemberhimmel. Viele nagen betreten an den Lippen. Andere wollen gar nicht hinsehen und wenden sich stumm ab. Als jeder schon denkt, ,jetzt ist der Ofen aus’, erschüttert noch einmal ein lauter Knall das Werksgelände: Die letzten Gase im Hochofen sind verpufft. Das stählerne Herz ist tot.“
Herausputzen der Altstadt
Die über Jahrhunderte gewachsene und zuletzt immer mehr heruntergekommene Altstadt rückt Ende der 1960er-Jahre ins Blickfeld. Jetzt soll im großen Stil saniert werden. Mit Klein Langenberg verschwindet aber auch ein Quartier, weil der Karstadt-Konzern plant, an der großen Weilstraße ein Kaufhaus zu bauen. Nach dessen Eröffnung im Jahr 1976 bindet und holt es Kaufkraft nach Hattingen – und lenkt den Blick der Besucher aufs Fachwerk der alten Häuschen drumherum: Die Altstadt wird zu einem der wichtigsten Werbeträger.
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Goldkrone und Goldmedaille
Was für Triumphe: Marlene Schmidt aus dem Rauendahl wird am 16. Juli 1961 in Florida zur Miss Universum gewählt – und Ruderer Armin Eichholz aus Blankenstein gewinnt am 25. September 1988 bei den Olympischen Spielen in Seoul mit dem Deutschland-Achter die Goldmedaille.
Die neue Stadt Hattingen
Am 1. Januar 1970 tritt die Kommunale Neugliederung in Kraft. Die Stadt Hattingen wächst auf rund 71 Quadratkilometer an und hat nun 60.490 Einwohner. Erster Bürgermeister wird Willy Brückner (SPD), Verwaltungschef ist Stadtdirektor Hans-Jürgen Augstein. Erst zum 600-jährigen Stadtjubiläum wird diese Doppelspitze abgeschafft: Dieter Liebig (SPD) ist ab 1997 erster hauptamtlicher Bürgermeister – mit ihm geht die Stadt Hattingen ins neue Jahrtausend.
>>> Ein streitbarer Kämpfer für Freiheit und Frieden
„Habt keine Trauer um mich – ich hoffe, dass mich der Herr annimmt. Hat er nicht alles wunderbar gefügt. Er ließ mich in einem Hause, in dem ich auch in der Gefangenschaft manche Liebe und menschliches Mitgefühl empfing. Er gab mir über fünf Monate Zeit – wahrlich eine Gnadenzeit – mich auf die Heimholung vorzubereiten. (...) Sieh’, liebe Mutter, so menschlich schwer und schmerzlich mein frühes Scheiden auch sein mag – Gott hat mir gewiss eine große Gnade erwiesen.“
Diese Worte richtet Nikolaus Groß am 21. Januar 1945 an seine Familie. Sechs Tage zuvor wurde er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Zynische Begründung: „Er schwamm mit im Verrat, muss folglich auch darin ertrinken!” Am 23. Januar 1945 wird Groß in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Der Hattinger hat keine Chance, die Nazis dulden keine Kritiker. Der herzensgute, aber auch streitbare Kämpfer für Freiheit und Frieden muss mit dem Leben bezahlen.
Volksschulzeit in Wennigen
Nikolaus Groß wird am 30. September 1898 in Niederwenigern geboren. Sein Vater ist Zechenschmied. Nach seiner Wennischen Volksschulzeit fährt auch er ein – und beginnt sein Engagement in der katholischen Arbeiterbewegung. Groß wird Mitglied der Zentrumspartei, schließt sich dem Antonius-Knappenverein (heute KAB) Niederwenigern an und steigt bei der Zeitung „Bergknappe“ ein.
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Er stellt sich gegen die Nazis und wird gegen Mittag des 12. August 1944 von der Gestapo in Köln verhaftet. „Vati, wohin gehst Du“, fragt die gerade fünf Jahre alte Leni, nicht wissend, dass es die letzte Begegnung mit ihrem geliebten Vater ist. Schwere Tage für die Familie, Mutter Elisabeth hofft bis zuletzt auf ein Wiedersehen. Doch vergebens.
Papst Johannes Paul II. spricht Nikolaus Groß am 7. Oktober 2001 auf dem Petersplatz selig.
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>>> Historie – Hattingen im Laufe der Jahre, 1900-1999
18.7.1900. Auf dem Hohenstein im Stadtwald wird der Grundstein für den Bismarckturm gelegt.
29.9.1901. Einweihung des Evangelischen Krankenhauses.
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1905. Auf dem Obermarkt und am Steinhagentor wird „einem allgemeinen Bedürfnis Rechnung tragend“ je eine öffentliche Bedürfnisanstalt (Pissoir) aufgestellt.
Februar 1910. Der dressierte Dobermann „Tell“ nimmt seinen Dienst als Polizeihund auf.
23.11.1912. Das Gemeinschaftswerk liefert erstmals Strom.
26.4.1919. Hermann Hagedorn eröffnet im Saal des „Westfälischen Hofs“ das Central-Theater.
24.11.1921. Gründung des „Vereins für Heimatpflege im Kreise Hattingen“.
13.5.1928. Eröffnung der Ruhr-Badeanstalt Stolle.
August 1929. Die Seilbahn zwischen der Zeche Alte Haase und dem Hattinger Gemeinschaftswerk wird in Betrieb genommen.
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Januar 1951. Im „Braustübl“ (Große Weilstraße) bedient „Ludwig der Große“ – mit 2,19 Metern angeblich größter Kellner der Welt.
17.4.1952. Bredenscheider Schulstreik: Weil es so viele Lehrerwechsel und nicht genügend Raum gibt, werden die Kinder drei Monate lang nicht zur Schule geschickt.
August 1955. Aus für den seit dem 14. Jahrhundert andauernden Mühlbetrieb an der Ruhrbrücke: Birschels Mühle wird stillgelegt.
19.1.1961. Der pakistanische Staatspräsident Mohammed Ayub Khan besichtig die Henrichshütte.
13.8.1962. Ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer wird auf Kosten der Ratsfraktionen eine 4,50 x 2,50 Meter große Nachbildung der „Schandmauer“ vor dem Rathaus aufgestellt.
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27.11.1964. König Hussein von Jordanien besucht die Hütte.
15.8.1965. Der beliebte Heimatdichter Otto Wohlgemuth verstirbt im Bügeleisenhaus.
1.4.1970. Die Sitzplastik auf dem Obermarkt wird nach einem Aprilscherz in der WAZ im Volksmund „Affenfelsen“ genannt.
25.8.1973. Zehntausend Jugendliche campen für das „Free Concert“ in den Ruhrwiesen.
11.7.1975. 1. Altstadtfest.
21.2.1977. In Holthausen gibt es den ersten Karnevalsumzug.
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2.7.1987. Einweihung des Denksteins „Gegen das Vergessen“ am Synagogenplatz.
22.5.1993. Das Bundestreffen des Zwillingsclubs „Doppelt gemoppelt“ findet in der Realschule Grünstraße statt.
1996. Hattingen feiert seinen 600. Geburtstag.
(Quelle: „Hattingen Chronik“ von Thomas Weiß / Klartext-Verlag)
+++ Dieser Text ist zuerst im Rahmen von „625 Jahre Hattingen“ veröffentlicht worden. Weil er so beliebt war, haben wir uns entschieden, ihn noch einmal zu veröffentlichen +++