Gladbeck. Christel Kositza ist 99 Jahre alt. Die Gladbeckerin erinnert sich an den Jahreswechsel 1944/45 als viele Menschen Hunger leiden mussten.
99 – „eine komische Zahl“, findet Christel Kositza und lacht herzlich. Sie muss es ja wissen. Wie eine Bilderbuch-Oma sitzt die zarte Frau in ihrem Sessel und erzählt von früher, redet über Gott und die Welt, den Winter 1944/45, unerfüllte und realisierte Träume, gute und schlechte Zeiten. Ja, auch traurige Kapitel gibt es in den 99 Lebensjahren der Seniorin, die in Gladbeck lebt. Krieg und Tod waren ihre Begleiter. Doch trotz all‘ der Schicksalsschläge hat die couragierte Frau nie ihren Lebensmut und ihre Zuversicht in die Zukunft verloren.
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Wenn Christel Kositza plaudert, hat man das Gefühl: Geschichte wird lebendig. Klar, über den Zweiten Weltkrieg, die harten Jahre und eiskalten Winter haben wir in Schulbüchern gelesen. Aber wie erlebte die Bevölkerung den Alltag um 1944/1945, in den Jahren zuvor und danach? Die 99-Jährige gewährt einen Einblick in ihre Biografie.
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Das Licht der Welt erblickte Christel Kositza anno 1925. Sternzeichen Waage. Das passe auch, meint die 99-Jährige selbstbetrachtend: „Ich bin ein ausgeglichener Mensch.“ Ihre Wiege stand in Rheinhausen. Ein Drei-Mädel-Haus hatten die Eltern: Marga, drei Jahre älter als Christel, Gerda neun Jahre jünger. Viele Fotos aus der Kindheit und Jugend gibt‘s nicht mehr.
„Das war in unserer Dorfschule in Rheinhausen, alle acht Klassen wurden dort unterrichtet. Die erste Klasse ist noch mit Holzschuhen zu sehen“
Die meisten habe sie irgendwann aussortiert, sagt Kositza. Die Erinnerungen habe sie schließlich im Kopf parat. Und in so vielen Lebensjahren sammle sich ja einiges an. Wohin mit all‘ den Bildern? Vor allem, seitdem sie nicht mehr in ihrer eigenen Wohnung, sondern im Johannes-van-Acken-Haus in Gladbeck zuhause ist. Doch ein paar Fotografien hat sie noch behalten und wiedergefunden. Bereitwillig zeigt die 99-Jährige sie ihrem Besuch. Da ist zum Beispiel jenes, auf dem Kinder spielen. „Das war in unserer Dorfschule in Rheinhausen“, entsinnt sie sich, „alle acht Klassen wurden dort unterrichtet. Die erste Klasse ist noch mit Holzschuhen zu sehen.“
Ein Pausenclown sei sie in der Schule gewesen. Aber: „Ich wusste immer früh genug, wann ich aufhören muss.“ Erdkunde habe sie sehr gerne als Fach gehabt; Länder, eine Leidenschaft, die sie später einmal ausleben konnte. Und Kopfrechnen, das beherrscht sie heute noch 1a.
Das Reisen war ihre große Leidenschaft
Streng sei die Erziehung in ihrer Kindheit und Jugend gewesen. Aber das ist in den Augen der alten Dame nichts Negatives. Begründung: „Ich glaube, dass Strenge gut für die Charakterbildung ist. Man lernt zum Beispiel Disziplin und Pünktlichkeit.“
Das Zimmer im Johannes-van Acken-Haus – seit 1955 lebt Kositza in Gladbeck – ist mit Holzmöbeln ausgestattet, einem Eckschrank und vielen Bildern an den Wänden. „Mein Wohnschlafzimmer“, so nennt Christel Kositza ihr Zuhause an der Rentforter Straße, in das sie vor sieben Jahren gezogen ist. Die alte Dame hat es sich im Lehnsessel mit einer Häkeldecke gemütlich gemacht. Neben der Bewohnerin ist ein großes stilisiertes Herz aufgestellt, gefüllt mit vielen, vielen kleinen Herzen: „Gutschein für Christel“.
Eine Menge Herzchen! Nein, einsam fühle sie sich nicht, beteuert sie mit Nachdruck. Immer schon habe sie sich jungen Menschen zugetan gefühlt, sagt die Tante von je zwei Nichten und Neffen. „In der Gemeinde St. Josef fühle ich mich bestens aufgehoben; da habe ich auch viele junge Leute kennengelernt.“ Etliche „gute Bekannte“ habe sie – und ihre „Perle“, Nachbarin Bärbel.
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Obwohl schon so viele Menschen von ihr gegangen sind, hat sich die Seniorin unüberseh- und hörbar eine positive Lebenseinstellung bewahrt. Aber „ein ganz großer Einschnitt“ war der tragische Tod ihres Mannes Alfons. Ihn hat sie im Jahre 1956 geheiratet. Christel Kositza: „Mein Mann war Laborant bei Stinnes in Essen-Karnap. Nach einem Jahr Ehe ist er bei der Arbeit verunglückt.“ Danach habe sie nie wieder geheiratet – und damit war auch der Traum von eigenen Kindern ausgeträumt.
Nach einem Jahr Ehe der dramatische Tod des Ehemannes
Sie hat noch gut im Gedächtnis, wie sie ihren Alfons kennenlernte: „Ich bin von Beruf Köchin. Alfons war Gast, als ich gearbeitet habe.“ Nach seinem dramatischen Tod habe sie sich, eine junge Witwe, mit dessen Schwester Angela zusammengetan. Mit ihr habe sie viele Reisen unternommen: zum Beispiel nach Malta, in die Niederlande, sehr oft nach Italien, auch nach Ägypten und in die Camargue. „Das war hochinteressant, und ich habe es gerne schön warm“, sagt die 99-Jährige mit einem feinen Lächeln.
Sehr emanzipiert für die damalige Zeit, doch Christel Kositza stand schon früh auf eigenen Beinen. Immer sei sie sehr selbstständig gewesen, habe als Kind stets betont: „Das kann ich alleine!“ Zudem sei Freiheitsdrang eine ihrer Charaktereigenschaften.
„Ich erinnere mich, dass Grubenpferde geschlachtet wurden“
„Beruflich war ich immer in Gladbeck“, sagt sie. In der Metzgerei Altenhölscher habe sie 20 Jahre als Köchin gearbeitet und auch für die Angestellten gekocht: „Das waren zwölf Personen.“ Die Berufsentscheidung sollte ihr im Laufe ihres Lebens Vorteile bringen, aber auch Schmerzen. „Während des Krieges habe ich im Krankenhaus in der Küche gearbeitet, so war ich gut versorgt“, plaudert die 99-Jährige. Da sei es anderen ganz übel ergangen. Pferdefleisch statt Pastetchen. „Ich erinnere mich, dass Grubenpferde geschlachtet wurden.“ In den letzten Kriegsjahren und unmittelbar danach habe oft und viel Hunger geherrscht. Die weißhaarige Seniorin weiß es noch, als wenn es gestern gewesen wäre: „Es war eine schlechte Zeit, vieles hat sich um Schwarzhandel gedreht.“
Früchte von fremden Bäumen pflücken, Kartoffeln von Äckern einsacken, Kohle von Waggons klauen: „Das war kein Stehlen, hat der damalige Kölner Kardinal Frings gesagt.“ Nach dem Geistlichen wurde für diesen Mundraub ein eigenes Verb kreiert: fringsen.
Hunger, Kälte, Bombenhagel: Doch ihre Familie habe Glück im Unglück gehabt, wie sie im Rückblick meint. Die Alarm-Nächte sind der 99-Jährigen bis heute unvergessen. Sie weiß: „Der Bombenkrieg hat viele verrückt gemacht. Wir hatten ein eigenes Häuschen, mein Vater hat im Bergbau gearbeitet und wurde deswegen nicht gezogen. Unser Haus wurde nicht bombardiert.“
Der Vater war kein Soldat, bekam ein Kohle-Deputat. Frieren musste ihre Familie also nicht. Dabei „gab‘s früher richtig Schnee und Eis“. Nicht so wie heute... Doch gewusst wie, hieß damals die Devise: „Dann haben wir uns eben bei Glatteis Socken übergestülpt.“
Ein Unfall hinterließ Spuren
Da es an allem mangelte, versuchten die Menschen, sich mit allerlei Tricks zu behelfen. „Ich habe zwei Jahre in einer Schneiderei gearbeitet. Da wurde aus alten Fallschirmen Kleidung genäht.“
Die NS-Zeit „hat man überall gemerkt, bei uns vielleicht nicht so heftig wie anderswo“. Im Bund Deutscher Mädel habe sie mitmarschieren müssen. Und jeden Sonntag ging‘s in die Kirche: „Die war ein weiter Weg.“ Die christlichen Wurzeln haben die 99-Jährige geprägt. Sie sagt von sich: „Ich bin sehr gläubig! Ich bete jeden Abend. Der Glaube hat mir Festigkeit gegeben.“ Mit großer Besorgnis sehe sie die Kirchenaustritte. Kositza bemerkt jedoch auch kritisch: „Die Kirche hat vieles falsch gemacht.“
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Auf ihr Gottvertrauen stützte sich Kositza in manch‘ schwerer Stunde. So hat ein Unfall unauslöschlich Spuren hinterlassen. Die alte Dame berichtet: „Als ich in der Küche lernte, habe ich mir mit kochendem Wasser meinen Vorderkörper verbrannt. Drei Monate wurde an mir gedoktert. Ich hatte Verbrennungen ersten bis dritten Grades.“ Die Narben hätten sie, das junge Mädchen, beschämt.
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Jetzt, viele Jahrzehnte sind ins Land gegangen, stellt die 99-Jährige fest: „Es stimmt nicht immer alles. Man muss Kompromisse machen.“ Ein Tipp für ein langes Leben? „Ich habe nie geraucht, nie getrunken.“ Für gutes Essen ist die Profi-Köchin nach wie vor zu haben. Bei Lachs, gerne geräuchert, Zunge in Madeira und Sauerbraten läuft ihr das Wasser im Mund zusammen. Was ihren Gaumen richtig jubilieren lässt: „Eier in allen Formen und Nudeln.“ Aber auch ohne ihre Leibspeisen auf dem Teller bekräftigt Christel Kositza: „Ich bin wunschlos glücklich und sehr zufrieden“ – mit mehreren Ausrufezeichen...