Gladbeck. Seit dem 24. Februar ist für Ivan (16) nichts mehr, wie es einmal war. Der Ukrainer flüchtete nach Gladbeck und gewährt Einblicke in sein Leben.
Donnerstag, 24. Februar 2022, ein Anruf in aller Herrgottsfrühe. Das ist der Moment, in dem für Ivan Vinytskyi die Welt zusammenbricht. Auf einen Schlag ist sein Leben, das Leben seiner Familie, Freunde, vieler Menschen in Europa nicht mehr das, was es für den 16-Jährigen aus Kiew einmal war. Vor einem Monat flüchtete er mit Mutter und Bruder nach Gladbeck. Darüber, über seinen Alltag in der Heimat und seinen bejubelten Auftritt am neuen Wohnort erzählt der Ukrainer der WAZ Gladbeck.
„Ich bin Ivan“, stellt sich der 16-Jährige vor – in deutscher Sprache. Ein wenig Stolz klingt in diesen Worten mit. Denn erst vor etwa einem Monat ist der 16-Jährige mit Mutter Anna Vinytska (42) und dem zehnjährigen Bruder Andrej in Gladbeck angekommen, drückt schon die Schulbank des Riesener-Gymnasiums. Den neunten Jahrgang besucht er, in seiner Heimat wäre es die elfte Stufe, die Abschlussklasse gewesen.
In Gladbeck besuchen die Brüder Vinytskyi bereits die Schule
Diese Informationen dolmetscht Elena Röken auf Russisch. Denn, so übersetzt die gebürtige Moskauerin, die seit 30 Jahren in Gladbeck zuhause ist: „Es gab zwar an seiner Schule in Kiew Deutsch als Fach. Doch nur sehr selten ist ein Kurs zustande gekommen.“ Ein paar Brocken habe er gelernt, wenig. Also verläuft das Gespräch auf Russisch – „Das kann eigentlich jeder in der Ukraine“ – und Englisch. Das vertraute Kiew, das scheint in unendliche Ferne gerückt. Kurz vor der russischen Invasion, übersetzt Röken die Erzählung der Mutter, sei die 42-Jährige beruflich in der Türkei gewesen. Die Marketing-Expertin: „Es gab kleine Anzeichen für einen bevorstehenden Krieg. Es könnte ein Flugverbot geben.“ Im Innern sei sie auf alles vorbereitet gewesen, sagt die zierliche Frau.
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Sohn Andrej ergänzt: In der Schule habe er mit seiner Klasse einen Bunker besucht – vor dem Schicksalstag 24. Februar. Ivan sagt hingegen mit Nachdruck, nein, er habe keinen Kriegsausbruch erwartet: „нет!“ Und dann schreckt ein Anruf des Vaters die Familie auf. Ivan hat sich dieser Morgen ins Gedächtnis gebrannt: „Wir sollen bitte zuhause bleiben. Dann haben wir auf weitere Informationen gewartet.“
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Schließlich packten Anna und ihre Söhne Kleidung und Essen, flüchteten in die Metro: „Dort haben wir die erste Nacht verbracht.“ Am Morgen darauf holte die Familie einige Sachen aus der Wohnung. „Am 25. Februar sind wir dann zum Bahnhof gelaufen“, so Ivan. Wohin die Reise führen sollte? Keine Ahnung. Der 16-Jährige: „Der Zug nach Warschau war schon weg, dann wollten wir nach Lwiw.“ Vollkommen überfüllt sei die Bahn in die ukrainische Stadt an der polnischen Grenze gewesen, stellte die Familie am 26. Februar gegen 4 Uhr fest.
Schließlich fällt der Entschluss, Kiew zu verlassen
„Alle Entscheidungen musste ich treffen. Ich hatte eine Million Gedanken im Kopf: Mache ich alles richtig? Sollen wir doch noch eine Woche in der Metro bleiben? Aber jetzt kann man noch wegfahren. Was ist später?“, erinnert sich Anna Vinytska. Die 42-Jährige fasste schließlich den Entschluss, Kiew zu verlassen: Über Warschau erreicht das Trio zunächst Berlin. Noch im Zug recherchiert die Ukrainerin international, wo sie mit ihren Jungs eine Bleibe finden kann. Über einen zufälligen privaten Kontakt ist es: Gladbeck. Anna hat gegoogelt: Schulen und eine Musikschule gibt’s hier – okay!
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Eine Wohnung an der Goethestraße ist das neue Zuhause der drei Kriegsflüchtlinge. Wohl fühlen sie sich hier, auch wenn vieles für sie sehr ungewohnt ist. Zum Beispiel liege die polnische Mentalität der ukrainischen näher. Während Andrej inzwischen Viertklässler der Lambertischule ist, ist sein großer Bruder einen Tag vor den Osterferien am Riesener-Gymnasium angefangen. Mit etwas Verwunderung stellt Ivan, der gerne ein IT-Praktikum machen möchte, fest, dass sein Lieblingsfach Mathematik „to easy“ sei. In allen Fächern werde in deutscher Sprache unterrichtet, zusätzlich gebe es Extra-Sprachunterricht.
Beim Uraine-Benefizkonzert in Gladbeck erhält Ivan für sein Klavierspiel standing ovations
Was Ivan irritierte: die standing ovations für seinen Beitrag zum kürzlichen Ukraine-Benefizkonzert in der Lambertikirche. Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup, Pfarrerin im Ruhestand und Mitglied im Flüchtlingsarbeitskreis der Ev. Kirchengemeinde, hat es nicht vergessen: „Er konnte mit diesem Applaus gar nichts anfangen. Dabei war es der Höhepunkt des Konzertes.“ Der 16-Jährige interpretierte Werke von Frédéric Chopin, sein Lieblingskomponist. Ivans Mutter: „Ivan hat mit sieben Jahren angefangen, Klavier zu spielen, zu Hause auf einem Spielzeuginstrument.“
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Die Großeltern und ein Uropa blieben in der Ukraine zurück. Mit ihnen telefoniert die Familie fast täglich. Während Andrej so bald wie möglich wieder in die Heimat zurück möchte, rechnet seine Mutter damit, dass es noch ein halbes bis ein Jahr dauern wird, bis das möglich ist. Was für Anna zählt: „Dass die Kinder an einem Platz sind, an dem nicht geschossen wird!“ Für die Unterstützung der Gladbecker ist die Ukrainerin sehr dankbar: „Das ist kostbar.“