Gladbeck. Wie konnten Schüler am Jungengymnasium Gladbeck in Kriegszeiten überhaupt lernen? Stadtarchivar zieht Parallelen zur Lage in der Ukraine.
Menschen sind auf der Flucht vor Bombardements, Männer kämpfen als Soldaten, die Infrastruktur wird zerstört, Wohnhäuser und öffentliche Einrichtungen liegen in Schutt und Asche. Es herrscht Krieg. Das Szenario trifft aktuell für die Ukraine ebenso zu wie für Gladbeck im Zweiten Weltkrieg – mit Konsequenzen für junge Menschen. Drehen wir die Zeit einmal um Jahrzehnte zurück und betrachten beispielhaft die Situation am damaligen Jungengymnasium Anfang 1943 bis Herbst 1950. So manche Parallele zur Ukraine drängt sich geradezu auf.
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Das damalige Jungengymnasium in Gladbeck heißt längst im Volksmund „Rats“. Über Zerstörung, Mangel und andere Kriegsfolgen ist längst Gras gewachsen. Stadtarchivar Christian Schemmert hält es für lohnenswert in die Lokalhistorie der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit einzutauchen, denn sie schärfe das Verständnis für die derzeitige Lage in der Ukraine, „etwa hinsichtlich der Frage nach dem menschlichen Preis und dem ökonomischen Aufwand, den eine Stadtgesellschaft in Zeiten von Krieg und Wiederaufbau im Bereich des Schulwesens zu betreiben hat“. Was hieß das für die Pennäler, die am Jungengymnasium die Schulbank drückten, und ihre Lehrer?
Aussagen von Gladbeckern führen das Elend in den Kriegsjahren vor Augen
Schemmert hat in Erinnerungen von Zeitzeugen und Akten des städtischen Schulverwaltungsamtes gegraben. Was zutage getreten ist durch Aussagen des einstigen Stadtschulrates Theodor Holländer und des früheren Ratsgymnasiallehrers Ludwig Bette, führt den Ausnahmezustand über viele Jahre vor Augen. Wenn beispielsweise von Schülern des Jungengymnasiums im Februar 1943 die Rede ist, muss man wissen: Seinerzeit wurden 31 der insgesamt 33 gemeldeten Sechst- und Siebtklässler zum Flak- und Luftwaffenhelfereinsatz einberufen. Primaner befanden sich zu dem Zeitpunkt längst im Reichsarbeits-, Schanz- oder Wehrdienst, hat Schemmert herausgefunden. Die Kinderlandverschickung, also Evakuierung in andere Regionen, tat ein Übriges.
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Wer hier ausharrte, suchte Schutz unter der Erde – wie es auch Anna Vinytska berichtet. Die 42-Jährige aus Kiew erzählt, dass sie am Tag des Kriegsausbruchs mit ihren beiden Söhnen Ivan (16) und Andreij (zehn) in die Metro geflüchtet sei, wie viele, viele andere Menschen in der ukrainischen Hauptstadt.
Der Gladbecker Holländer erinnert sich an das Jahr 1943: „Da glaubte man, 500 und mehr Kinder seien in Schulkellern gesichert. Glücklicherweise blieben solche Menschenfallen vor Bombentreffern bewahrt.“ Stundenlanger nächtlicher Alarm habe dazu geführt, dass „Kinder zu geistiger Arbeit nicht mehr fähig gewesen“ seien; schrillten die Sirenen tagsüber, war’s vorbei mit dem geordneten Unterricht.
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Was immer das unter den damaligen Umständen bedeutet haben mag. Die Schar der Pennäler war äußerst überschaubar, ebenso die Anzahl der Köpfe im Lehrerkollegium. So waren nach Schemmerts Angaben zu Beginn des Jahres 1944 in der Lehrstätte an der Mittelstraße gerade einmal fünf Pädagogen im Dienst, die restlichen Kräfte waren zur Wehrmacht oder Kinderlandverschickungen eingezogen. Der Stadtarchivar weiß: „Fünf Schüler legten im vorletzten Kriegsjahr noch schnell ihre Reifeprüfung als eine Art ,Notabitur’ ab, 1943 waren es immerhin noch elf gewesen.“
Der Krieg bringt gerade auch die Schulkarriere von Ivan Vinytskyi, dem 16-Jährigen aus Kiew, aus der Bahn. In seiner Heimat stünde nun mit dem Besuch der elften Klasse der Abschluss an. Mutter Anna bekam bei Kriegsausbruch per Telefon den Hinweis, ihre Kinder sicherheitshalber zuhause zu behalten. Der Jugendliche, den es mit Mutter und Bruder nach Gladbeck verschlagen hat, geht hier ins Riesener-Gymnasium, neunter Jahrgang.
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Wie mag momentan der Schulalltag in der Ukraine ablaufen – wenn es ihn denn überhaupt gibt? Vergleichbar mit dem in Gladbeck während des Zweiten Weltkriegs? „Insgesamt stand das Schulgebäude meistens leer, die Unterrichtsräume waren ungenügend beheizt und wurden teilweise auch nur zur Lagerung von Getreidevorräten oder zur Nutzung von Hilfsdienstorganisationen umfunktioniert“, skizziert der Stadtarchivar den Zustand am Jungengymnasium. Sporadischen Unterricht gab’s für ein kleines Grüppchen von Schülern im Westflügel des Gebäudes – bis zur Nacht vom 26. auf den 27. März 1944, als Bombardements das Haus stark beschädigten.
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Dabei sollte es nicht bleiben. Lehrer Bette berichtet davon, dass ein Jahr darauf sieben Bomben das Jungengymnasium trafen: „Der Westflügel (...) und das Hauptgebäude wurden zum großen Teil zerstört. Das Treppenhaus mit den anschließenden Fluren und Räumen brach vom Dach bis zum Erdgeschoss zusammen (...) Die Direktorenwohnung, das Amtszimmer und das Vorzimmer brannten mit den meisten Akten und Handbüchern völlig aus.“
Christian Schemmert zieht Erinnerungen von Helmut Kohues heran, 1937 am Jungengymnasium eingeschult: „Die Luftwaffenhelfer kamen morgens um 8 Uhr zur Schule. Waren sie aber nachts lange wegen Fliegeralarms im Einsatz, wurde der Beginn des Unterrichts auf 10 Uhr gelegt. Wegen erhöhten Einsatzes in ihrer Stellung durften die Flakhelfer ab April 1943 nicht mehr morgens zum Unterricht zur Penne kommen.“ Wegen des Personalmangels wurden Fächer gekürzt oder fielen komplett aus. Es sollte noch Jahre dauern, bis ein reibungsloser Lehrbetrieb wieder möglich war. Der Krieg hatte die Schullandschaft so gut wie dem Erdboden gleich gemacht.
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Schemmert: „Man kann sich vorstellen, dass es vielen Menschen in der Ukraine gerade ähnlich ergeht, wie es die Bevölkerung in den Städten des Ruhrgebiets vor etwa 80 Jahren hat erleben müssen.“ Zerstörte Städte, traumatisierte Kinder, Familien, die wie im Zweiten Weltkrieg durch Kinderlandverschickungen, millionenfach getrennt wurden: „Manches scheint sich in der Ukraine tatsächlich zu wiederholen.“
Keine der Schulen in Gladbeck überstand den Zweiten Weltkrieg unbeschadet. Es bedeutete einen enormen Kraftakt, um aus den Trümmern wieder funktionierende Einrichtungen zu schaffen.
Die Wohnbebauung in Gladbeck war zu 44 Prozent zerstört
Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Wohnbebauung in Gladbeck zu 44 Prozent stark beschädigt oder sogar zerstört. Mehr als 1000 Bombenalarme erlebte die Bevölkerung in den Jahren 1941 bis 1945. Die Kriegshandlungen endeten am 29. März 1945, als amerikanische Truppen in Gladbeck einmarschierten. Die Verwaltungshoheit lag nun bei einem Stadtkommandanten der Alliierten.
„Mindestens 83 frühere Schüler des Jungengymnasiums waren getötet worden, weitere 16 Personen galten noch Jahre nach Ende des Krieges als vermisst“, so Gladbecks Stadtarchivar Christian Schemmert, Oberstudienrat Bette beschreibt die Ausgangslage an diesem Standort: „Trümmermassen in allen Fluren; Türen und Fenster zerschmettert; in den Klassenräumen ein wildes Durcheinander von Möbeln, Schulgeräten, Bildern, Büchern und sonstigen Gegenständen. Im Lehrerzimmer hatten Eindringlinge die Schränke mit Gewalt aufgebrochen, den Inhalt hinausgeworfen und die Bücher zerrissen. Aus den naturwissenschaftlichen Sammlungen und den Büchereien war vieles gestohlen, von den Turngeräten das Leder entwendet. Auf Leitern musste man in die einzelnen, arg zerstörten Stockwerke hinaufsteigen.“ Stand Lehrmaterial zur Verfügung, mussten zunächst Passagen mit Nazi-Ideologie geschwärzt werden; Lehrkräfte entwickelten Arbeitsblätter.
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Wegen des baulichen Zustands konnten die Räume des Jungengymnasiums nur bedingt genutzt werden, man wich aus auf Zimmer im Berufskolleg und in der Aloysiusschule. Doch nicht nur materiell bestand fast tabula rasa. Auch personell musste Gladbeck bei Null anfangen: Lehrer waren im Krieg gefallen, befanden sich in Kriegsgefangenschaft oder waren belastet. Wegen des akuten Pädagogen-Mangels wurden Pensionäre reaktiviert. Unter Bettes Leitung nahmen zehn Lehrkräfte Anfang Januar 1946 ihre Unterrichtstätigkeit wieder auf.
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Damals lernten am Jungengymnasium 271 Schüler. Schemmert: „Hinzu kamen 37 Personen der Alterskohorte 1926 bis 1929, die ihren Reifevermerk erst nach dem 31. März 1942 erhalten und die überlebt hatten – als junge Soldaten.“ Aufgeteilt in zwei Förderjahrgänge über neun Monate mussten sie laut Stadtarchivar ihr Abitur „unter den wohl schwersten Bedingungen ablegen“.
Gladbeck im Zweiten Weltkrieg: Es fehlte an Heizmaterial, Lebensmitteln und warmer Kleidung
Auch außerhalb des Schulbetriebs war die Not groß. Der extrem strenge Winter 1945/46 forderte viele Todesopfer, Kindern fehlte es laut Stadtschulrat Theodor Holländer an warmer Kleidung und festem Schuhwerk: „Da war es nicht verwunderlich, daß die Schulversäumnisse eine nie gekannte Höhe erreichten. Dazu der völlige Mangel an Heizmaterial – wir saßen auf der Kohle und hatten doch keine, ein völliger Wahnsinn!“ Schulspeisungen sollten Hunger und Unterernährung entgegenwirken.“ 90 Prozent der Jungen, so Bette, nahmen daran teil.
Die Gladbecker Bevölkerung feierte den Wiederaufbau des Gymnasiums Ende 1950
Erst im Frühjahr 1949 konnte das Lehrerkollegium den bisherigen Schichtunterricht an Vor- und Nachmittagen aufgeben. „Damit kehrte für alle Beteiligten ein wichtiges Stück Normalität in den Alltag zurück, auch wenn der Unterricht vorerst weiter in der Aloysiusschule mit den an der Mittelstraße benutzten Räumen stattfinden musste“, berichtet Schemmert. Die Gladbecker Bevölkerung feierte den Wiederaufbau des Gymnasiums am 21. Oktober 1950.