Gladbeck. Tod im Bombenhagel: Unterlagen aus dem Stadtarchiv fördern Informationen zu den Umständen zutage. Wie starb der Russe Filimonenko in Gladbeck?
Für die Nachkommen von Michail Filimonenko grenzte es an ein Wunder. Viele Jahre wusste die Familie des russischen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg nicht, wo er seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Bis sie nach langer Suche in Gladbeck ausfindig gemacht werden konnte. Das Schicksal des Russen bewegte so sehr, dass die WAZ weiter eintauchte in die Vergangenheit. Offen blieb bisher die Frage: Wie war es Michail Filimonenko in Gladbeck ergangen? Ein Versuch, dessen letzte Stunden zu beleuchten.
Auf dem Gladbecker Friedhof Mitte erinnert ein Grabmal an Michail Filimonenko: Reihe 11 Nummer 8, vom Denkmal aus gezählt. Neben vielen anderen ist der Soldat bestattet. Was mit ihm geschehen ist, dieses letzte Kapitel hat Filimonenko mit ins Grab genommen. Rekapitulieren wir, wie zu dessen Todeszeit die Situation in Gladbeck ausgesehen, was sich zugetragen haben mag...
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Gesichert ist: Geboren wurde der Mann, der aus einem Dorf namens Sadovka, im Norden Kasachstans, stammt, am 24. Oktober 1904. Er starb am 19. Juli 1944.
Was war die Todesursache? Die Verwandten vermuteten, Filimonenko sei bei einem Bombenangriff gestorben. Und auch Silke Kuckert-Brinkmann, beim Zentralen Betriebshof Gladbeck (ZBG) verantwortlich für die Friedhofsunterhaltung, stellt – mit aller Vorsicht – diese These auf.
Schwere Luftangriffe auf Scholven wirkten sich heftig auf Gladbeck aus
Dr. Ludger Tewes, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam: „Tatsächlich gab‘s in dieser Nacht einen schweren Luftangriff auf Gelsenkirchen-Scholven mit heftigen Auswirkungen auf Gladbeck.“ Auf Köln-Wesseling und Scholven seien 896 Tonnen Sprengbomben gefallen. Allein in dieser Nacht. „Die Bomben auf Gladbeck galten dem Hydrierwerk in Scholven. Demzufolge wurde der Nordosten Gladbecks getroffen“, führt Tewes aus.
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Die Recherche im Stadtarchiv bringt auch so manches Detail zutage, das ein Schlaglicht wirft auf die Toten in jener Kriegszeit. Denn Filimonenko war nicht der einzige, den es traf. Entgegen der Annahme, er sei als Zwangsarbeiter in Gladbeck gelandet, stellt Niklas Häusler fest, dass dies wohl nicht der Fall gewesen ist. Der Mitarbeiter des Stadtarchivs erläutert: „Es gibt eine Zwangsarbeiterliste, doch taucht der Name Michail Filimonenko dort nicht auf.“ Wohl aber in einer Tabelle des Sterberegisters für die städtischen Friedhöfe, auf der Beisetzungen zwischen 1939 und 1945 vermerkt sind, samt Wohnort, Sterbetag, Gebühren und Ort der Grabstelle.
Unter der laufenden Nummer 403 steht: Filimonenko, Michail, Wohnort Feldhauser Straße. „Dort gab es ein Lager mit vielen Menschen“, weiß Häusler. Er räumt ein: „Es kann sein, dass auch Kriegsgefangene Zwangsarbeit geleistet haben.“
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Gebühren, unter anderem für Grabbereitung und Leichenhallen-Nutzung: null Reichsmark. Beerdigt wurde der seinerzeit 40-jährige Filimonenko auf dem Friedhof Mitte. Die Bemerkung in der letzten Spalte lautet: „russ. Kriegsgefangener“. Tewes: „Er wurde vermutlich 1942 gefangengenommen. Da endeten im Sommer die Kämpfe auf der Krim.“
Viele der Toten dieses Tages im Sommer 1944 erreichten nicht das 30. Lebensjahr
Und die Liste jener Männer, die am 19. Juli 1944 ums Leben kamen, ist lang. 31 Namen sind dort aufgeführt. Da sind beispielsweise der 23-jährige Alexander Dirdin und Grigoriy Galjaow, wie Filimoneko 40 Jahre, und damit einer der ältesten toten Kriegsgefangenen dieses Tages. Auffallend viele junge, 22-jährige, sind aufgelistet: wie Iwan Lebedew und Iwan Rolenkow. Insgesamt starben 19 russische Kriegsgefangene an diesem Tag im Jahre 1944, bevor sie das 30. Lebensjahr erreichten.
Für die Menschen in den Lagern gab es kaum ein Entkommen
Sie alle lebten im Lager an der Feldhauser Straße. Weitere gab‘s unter anderem an der Arenbergstraße und an der Maria-Theresien-Straße. Und all‘ diese toten russischen Kriegsgefangenen liegen reihenweise auf einem Grabfeld beerdigt.
Tewes liefert Fakten in nackten Zahlen: Angriff nach 1.26 Uhr, 74 Sprengbomben, ungefähr 300 zerstörte oder beschädigte Häuser, zwei Gebäude völlig vernichtet. „Aber unter der Zivilbevölkerung gab es offenbar keine Gladbecker Toten, wenige Verletzte“, sagt der Experte. Offenbar habe sich die Zivilbevölkerung in Sicherheit bringen können. Sirenen hatten die Menschen wohl eine halbe Stunde vor Bombenabwurf alarmiert, dass das Gebiet attackiert werde.
Keine Möglichkeit, sich zu schützen, hatten Kriegsgefangene. Bei Luftangriffen standen ihnen laut Tewes keine Bunker zur Verfügung. Der Historiker verdeutlicht: „Bei Nahtreffern hatten Kriegsgefangene keine Chance. Die leichte Flak um Scholven richtete ihre Zwei-Zentimeter-Geschütze auf die Baracken der Kriegsgefangenen, damit sie bei Fliegeralarm nicht flüchten konnten. Entkommen war da nicht möglich.“ Wie muss sich Filimoneko angesichts des Bombenhagels gefühlt haben? Wohl wissend, dass er dem Tode kaum entkommen kann? Zumal, darauf, weist Tewes hin, in Zweckel die Flakabteilung 882 ortsfest lag, „und sie hatte die Gefangenen im offenen Visier“. Der Gefechtsstand habe in einer Gaststätte an der Stadtgrenze gelegen.
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Auf dem Friedhof Mitte, auf einer weiteren Fläche, haben nicht nur Russen, sondern unter anderem auch sieben englische Flieger, ihre letzte Ruhestätte bekommen. McLean, Campbell, Brooks, Granger, Green und ihre Kameraden kamen im September/Oktober 1944 ums Leben. Gleichfalls ein französischer Kriegsgefangener, dessen Vorname sich als „René-Marie“ entziffern lässt.
Englische Flieger sind ebenfalls auf dem Friedhof in Gladbeck begraben
Auf einer Karte des Friedhofs in der Stadtmitte sind die Grabfelder von Kriegsgefangenen verzeichnet. 220 Russen sind es – plus 63 russische Zivilisten. Letztere Vokabel dürfte ein Euphemismus sein. Häusler: „Bei den Zivilisten handelte es sich wohl um Zwangsarbeiter.“ Zum Vergleich: Auf dem Friedhof in Brauck erinnern Grabmale an 30 russische Kriegsgefangene. 185 Landsleute werden als „Zivilisten“ bezeichnet.
Bronchitis, Lungentuberkulose und andere Krankheiten brachten den Tod
In den städtischen Dokumenten lassen sich Todesursachen nachlesen. Wie Phlegmone, Bronchitis, Abszess, Lungentuberkulose, Darmperforation. In Lagern mit vielen Menschen, dürften Krankheiten grassiert haben. Und noch etwas griff die Gesundheit an. „Gefangene wurden in Gladbeck oft schlecht ernährt. Aber auch die Bevölkerung hatte nicht viel“, ergänzt Tewes.
Er führt aus: „In Gladbeck lebten schon 1943 viele ,Fremdarbeiter‘, Gefangene, Franzosen, Italiener, Russen, Kroaten, Hilfswillige, Ukrainer. Wahrscheinlich waren mehr ausländische Männer zwischen 20 und 50 Jahren in Gladbeck als deutsche Männer, die an der Front waren.“
Der Historiker weiß zu berichten: „Italiener erhielten Packungen mit Zigaretten von den Gladbeckern, damit sie halfen, Bombenschäden an Wohnhäusern zu beseitigen. Die rationierten Zigaretten schickten die Soldatensöhne aus ihren Kontingenten von der Front.“
Es herrschte, so der Fachmann, manchmal „mittelalterliche Verhältnisse“ von Tauschverfahren. Tewes hat sich schon einmal – in Zusammenarbeit mit Katrin Bürgel, ehemals Stadtarchivarin – mit der Gladbecker Vergangenheit beschäftigt. Das Thema: Geschichte während des Ersten Weltkriegs. Zu lesen im Buch „Auf ein frohes Wiedersehen, liebe Mutter. Kriegskultur und Erfahrungshaltung im westfälischen Amt Gladbeck 1914-1918“ (Klartext-Verlag).