Gladbeck. Seit 1700 Jahren ist jüdisches Leben in Deutschland nachweisbar. Stadtarchivar Christian Schemmert gräbt in der Gladbecker Lokalhistorie.
Jüdische Geschichte, Kultur und Riten finden im Jahr 2021 besondere Beachtung. Grund: Nachweislich seit 1700 Jahren leben Menschen diesen Glaubens auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. So weit reichen die Spuren in Gladbeck bei weitem nicht zurück. Doch Stadtarchivar Christian Schemmert hat in der Lokalgeschichte gegraben und überraschende, faszinierende Fakten zutage gebracht.
Dabei schickt er voraus: Die Zeugnisse aus den Anfängen der späteren Stadt Gladbeck sind rar. Aber es gibt sie. Mit Handschuhen fasst der Stadtarchivar die „Acta specialia“ und Melderegister an, blättert behutsam die sepiabraunen Seiten um. Manche der nüchternen Einträge sind mager, andere erlauben Rückschlüsse auf Privatleben und Schicksale. Der Fachmann nimmt auch Aufsätze, wie von Rainer Weichelt, Erster Beigeordneter Gladbecks und Historiker, und Frank Bajohr („Verdrängte Jahre – Gladbeck unter’m Hakenkreuz“) zu Hand.
Vor 1900 gab es kein jüdisches Gemeindeleben im Vest
Schemmert stellt fest: „In der Zeit vor 1900 gab’s kein jüdisches Gemeindeleben im Vest.“ Die Ansiedlung jüdischer Menschen habe sich vor 1812 auf die Stadt Recklinghausen beschränkt – und da seien lediglich vereinzelt Familien nachweisbar. Gladbeck sei seinerzeit gerade einmal eine kleine, ländliche Streusiedlung gewesen: fünf Bauernschaften und ein Dorfkern mit ungefähr 65 Häusern – das war’s. „Die Bevölkerung setzte sich aus Katholiken zusammen“, beschreibt Schemmert die Situation.
Ein Einschnitt erfolgte 1812 – und zwar durch das „Preußische Judenedikt“: „Es erlaubte erstmals, dass jüdische Menschen sich frei bewegen und eigene Berufe wählen durften.“ Zuvor sei es Nicht-Katholiken verwehrt gewesen, sich im Vest Recklinghausen anzusiedeln. Die juristische Einstufung lautete seinerzeit: „Fremde“.
Weniger als 3000 Einwohner bildeten im Jahr 1871 Gladbecks Bevölkerung: Gemeldet waren 2755 Katholiken, drei Protestanten und – zwei Juden. Die Einträge geben Namen preis. Die Familie Nathan wird als erste nichtchristliche Familie geführt, die im Kirchspiel Gladbeck ansässig wird. Schemmert erfährt noch mehr: „Als Landjude war Nathan von Beruf Viehhändler und Fleischer.“ Rainer Weichelt schreibt in „Juden in Gladbeck 1812-1933: Leben im Verstädterungsprozess einer Bergbaugemeinde im nördlichen Ruhrgebiet“: „Für das Jahr 1816 weist das Verzeichnis über die jüdischen Einwohner neben einem männlichen Juden auch eine Jüdin aus. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihr um Nathans Frau Caroline.“ Zwei Töchter erblickten in Gladbeck das Licht der Welt. Allerdings kehrte die Familie in den 1820er Jahren der Stadt den Rücken und zog nach Essen.
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Der Kaufmann Levi Hess lebte ein Jahr in Gladbeck
Genau ein Jahr lebte der Kaufmann Levi Hess in Gladbeck. Der Eintrag im Melderegister besagt: im Haus Nummer 2. Schemmert erläutert: „Damals gab’s noch keine Straßennamen, nur Hausnummern.“ Mehr bekannt ist über Fridolin Zwillenberg, einer der Kaufleute, die sich um 1900 in Gladbeck niederließen. Sein Herrenkonfektionsgeschäft betrieb er an der Kaiserstraße 2. In einer ganzseitigen Anzeige in der Gladbecker Zeitung (28. September 1907), die Weichelt anführt, wandte er sich an „seine verehrten Kunden“: „Zu meiner Genugtuung blicke ich auf eine erfolgreiche Tätigkeit zurück. Getreu meinem bewährten Geschäftsprinzip, soll es auch fernerhin, nach Erweiterung meines Geschäfts, mein Bestreben sein, den an mich gestellten Ansprüchen nach besten Kräften zu genügen.“
Zwillenberg war nicht nur erfolgreicher Kaufmann, sondern auch jahrelang Vorsteher der Synagogenhauptgemeinde Dorsten. „Die acta specialia ist die wichtigste Akte, die wir dazu haben“, so der Stadtarchivar. Sie wurde im Jahr 1911 angelegt und reicht bis 1935. Dort steht ein Verzeichnis der in Gladbeck wohnhaften „Israeliten“. Im Jahr 1913 waren 105 Juden bei einer Gesamteinwohnerschaft von 48.188 Menschen gemeldet. In erster Linie handelte es sich um Händler und Handwerker. Sie etablierten sich als „assimilierte Juden, die sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens sahen“.
Die jüdische Hauptgemeinde war in Dorsten
In diesem Verständnis entwickelten sie ein Selbstbewusstsein, dass sich in der Konstituierung der Gemeinde zur Synagogenuntergemeinde – „die Hauptgemeinde war Dorsten“ – sowie der Gründung des „Israelitischen Männervereins“ (1906) und des „Israelitischen Frauenvereins“ (1912) unter Paula Zwillenberg ausdrückt. Dass jüdische Männer geachtete Mitglieder der Gladbecker Gesellschaft waren, ist zum Beispiel an der Eröffnung des Kaufhauses Daniel am Markt mit 30 Beschäftigten ersichtlich: „Darunter werden auch Nicht-Juden gewesen sein.“ Juden wie Zwillenberg und Daniel waren „bis mindestens 1929 für die DDP (Deutsche Demokratische Partei), heute FDP, aktiv“.
Fridolin Zwillenberg stellte als Vorsitzender der „Israelitischen Vereinigung zu Gladbeck“ ein Gesuch auf Errichtung eines jüdischen Friedhofs. In der evangelischen Gemeindeschule (Lutherschule) erhielten jüdische Mädchen und Jungen – mindestens zwölf aus sechs Familien – einen eigenen Religionsunterricht. Festgehalten ist, dass darunter die Familien Cahn und Callmann mit einem Kind waren, Zwillenbergs und Levys schickten jeweils zwei Kinder.
Schemmert beschreibt die assimilierten, eingesessenen Juden dieser Zeit als eine homogene Bevölkerungsgruppe, die von einer Sehnsucht nach Anerkennung und gesellschaftlicher Integration beseelt war. „Sie waren unbedingt verfassungs-loyal“, betont der Stadtarchivar. Dazu gehörte auch, dass sie in den Ersten Weltkrieg zogen: „18 von 30 männlichen Juden waren Soldaten. Hermann Cahn fiel 1917 an der Ostfront, Felix Katz starb 1916 an den Folgen einer Verwundung.“ Wie bitter „die Hoffnung auf Integration vor dem ersten Weltkrieg enttäuscht“ wurde, zeigten die Folgejahre.
Der Bergbau zieht viele Ostjuden an
Der Bergbau zog in der Zwischenkriegszeit eine andere Gruppe jüdischer Menschen nach Gladbeck: Kumpel und Hilfsarbeiter, vornehmlich aus dem polnischen Galizien. Das führte zu einer Differenzierung der jüdischen Gemeinde und versetzte ihr einen Stoß. Schemmert sagt klipp und klar: „Die deutschen Juden wollten mit den Ostjuden nichts zu tun haben, diese sogar von Wahlen zur Repräsentantenversammlung ausschließen.“ Rainer Weichelt spricht von einer Abwehrhaltung gegenüber den Neuankömmlingen.
Die Status-Unterschiede, gerade mit Blick auf den Lebensstandard, zwischen beiden Gruppen seien gar bisweilen größer gewesen als zwischen Juden und Christen. Differenzen traten auch in der Religionsausübung zutage. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab es Überlegungen, in Gladbeck eine Synagoge zu errichten: „Ein Grundstück war gekauft, die Baupläne wurden eingereicht. Aber gebaut wurde die Synagoge nie“, so Schemmert. Die alteingesessenen Juden aus Gladbeck besuchten die Synagoge in Essen. Die Familie Kaufmann hatte an der Kaiserstraße, inzwischen Horster Straße, einen Bet- und Unterrichtsraum eingerichtet. Diesen nutzten hauptsächlich Ostjuden.
Anno 1928 waren in Gladbeck 263 Juden gemeldet
Anno 1928 waren in der Stadt Gladbeck „263 Juden gemeldet, die Mehrzahl waren ostjüdische Arbeiter“. Die Daten geben Auskunft über die Berufe: 25 selbstständige Kaufleute, zwölf kaufmännische Angestellte, fünf Metzgermeister, fünf Handwerker, drei Akademiker sowie 30 Arbeiter und vier Hausierer. Von einem dieser Männer wissen wir mehr. Der Arbeiter Albert Glickzinski wurde 1899 geboren und stammte aus Galizien. Einbürgerungs- und Ausweisungsangelegenheiten sind aktenkundig. Demnach war der staatenlose Glickzinski 1919 nach Gladbeck gezogen, seit 1920 an der Grabenstraße 53 gemeldet. Die Aufenthaltsunterlagen mit der Ausweisnummer 198 wurden bis März immer wieder verlängert. Das Foto zeigt einen jungen Mann mit weichen Zügen, die Unterschrift wirkt kindlich, wie gemalt. Glickzinski war bis zu März 1931 im Gladbeck gemeldet, er verschwand später gen Paris.
„Man kennt schon früh rassenideologische Gedanken, die Ideen des Nationalsozialismus’ kamen hinzu“, weiß Schemmert, „nicht jeder Antisemit war Nationalsozialist, aber umgekehrt.“
Aus jüdischen Mitmenschen werden Opfer
Erste Schändungen jüdischer Gräber wurden 1929 registriert. Im „Dritten Reich“ wurden fast alle Male zerstört. Die Grabsteine von Ilse und Lieselotte Daniel, Erwin Cohn, Edith Isaak, Wilhelmine Katz, Heinz Egon Schlachter und Paula Zwillenberg konnten nach dem Krieg restauriert werden.
Im Ersten Weltkrieg kämpften Juden und Christen Seite an Seite. Schemmert: „In der Uniform waren sie alle gleich.“ Das änderte sich mit der Herrschaft der Nationalsozialisten. Der Stadtarchivar weiß zu berichten: „Hier im Vestischen Hof wurde die NSDAP gegründet. Im Sommer 1930 gab’s im Vorfeld einer öffentlichen Veranstaltung hetzerische Plakate, versehen mit dem Stempel des Wirtsvereins, in der die Kaufmannschaft organisiert war. Es erging die Empfehlung, die Plakate in allen Wirtshäusern auszuhängen.“
Kaiserliches Edikt
Jüdisches Leben in Deutschland ist zeitlich belegbar. So gestattete ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin seit dem 11. Dezember 321 Juden die Wahrnehmung Kölner (Colonia Claudia Ara Agrippinensium) Ämter.
„Mit einem allgemeinen Gesetz erlauben wir allen Stadträten, Juden in den Rat zu berufen“, heißt es übersetzt in dem Dokument. Das bedeutet: Von nun an war es in allen Provinzen des Reiches erlaubt, Juden in den Stadtrat zu berufen.
Es handelt sich um das älteste Zeugnis jüdischer Geschichte nördlich der Alpen. Es blieb erhalten, weil der oströmische Kaiser Theodosius II. im fünften Jahrhundert die Gesetze und Verfügungen des Römischen Reiches seit 312 für den „Codex Theodosianus“ sammeln ließ. Eine Handschrift davon gelangte in die Vatikanische Bibliothek.
Waren (assimilierte) jüdische Menschen bis dato ein integraler Teil der Gladbecker Gesellschaft, wurden sie nun angefeindet und attackiert. Der Stadtarchivar beschreibt eine Situation, wie sie sich im Jahr 1933 zugetragen hat: „Jüdische Männer wurden auf dem Markt zur Schau gestellt, getreten und geohrfeigt. Sie wurden Opfer von Demütigungen. Ältere Männer wurden durch die Straßen getrieben, manche mit einem Schild um den Hals, auf dem stand: ,Ich bin eine Juden-Sau und ein Kinderschänder’.“
Die Verantwortlichen wohnten Tür an Tür mit den Opfern, bis zu diesen Ausbrüchen herrschte gegenseitiger Respekt und ein Miteinander. Bürgerliches Selbstbewusstsein und politisches, gesellschaftliches Engagement der jüdischen Bevölkerung fanden Ausdruck in eigenen Organisationen: „Es gab einen eigenen Turn- und Sportverein. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wurde 1925 gegründet, 1936 hörte er auf zu existieren.“ Der vorläufige Höhepunkt der Judenverfolgung, die Reichspogromnacht am 9. November 1938, weitete sich über das gesamte Land aus: Der Mob plünderte Geschäfte, Schaufenster gingen zu Bruch, jüdische Menschen wurden verhaftet und getötet. Stadtarchivar Christian Schemmert stellt fest: „In den Tagen nach diesen Exzessen hörte jüdisches Leben in Gladbeck auf.“
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