Marsberg. Sauerländer Glashersteller investiert zweistellige Millionenbeträge. In Zukunft Strom aus Windpark zur Produktion von CO2-freiem Glas.
Der Sauerländer Glashersteller Ritzenhoff hat nach eigenen Aussagen die Wende geschafft. Knapp ein Jahr nach der Insolvenz in Eigenverwaltung und einem drohenden Aus der bekannten Traditionsmarke, gibt es nach Überzeugung des Geschäftsführers Carsten Schumachereine gute Zukunft für den Kristallglas-Hersteller. „Unsere Restrukturierungsziele haben wir in den vergangenen acht Monaten stringent umgesetzt. Durch den Neustart ist Ritzenhoff wahrscheinlich die einzige Glashütte in Europa, die keine Bankschulden hat“, sagt Schumacher im Gespräch mit dieser Zeitung.
Mehr als 50 Millionen Euro Verbindlichkeiten bei Banken abgelöst
Das hatte vor einem Jahr noch gänzlich anders ausgesehen. Das Unternehmen stand hoch zerbrechlich da. Ritzenhoff hatte einen Sanierungskredit in Höhe von „überschlägig 50 Millionen Euro“ in den Büchern, wie Jens Lieser noch im Februar dieser Zeitung erklärt hatte. Lieser war Sanierungsbeauftragter im inzwischen erfolgreich abgeschlossenen Insolvenzverfahren an der Seite von Geschäftsführer Carsten Schumacher. Ein KfW-Darlehen aus dem Jahr 2021 über zehn Millionen Euro stand damals ebenfalls noch zu Buche.
Harter Schnitt kostete Jobs - jetzt werden wieder Fachkräfte gesucht
Einige Gläubiger, also unter anderem Lieferanten und Banken, hatten das neue Konzept zur Rettung der Marke akzeptiert. Das nochmalige Millionen-Engagement des Investors und bekannten Fleischwarenproduzenten Robert Tönnies im Frühjahr gab die nötige Luft, um der angestaubten wie angeschlagenen Marke wieder auf die Sprünge zu helfen. Tönnies gehört inzwischen knapp die Hälfte des Unternehmens. Die Gesellschaftsform ist von einer AG in mehrere Gesellschaften umgewandelt worden. Unter dem Dach der Ritzenhoff Group GmbH gibt es eine Gesellschaft für Produktion, Logistik, Vertrieb und Einkauf, eine Gesellschaft für Dekoration und eine für „Designer Homeware“, unter der noch Porzellan verkauft wird.
Zum Schnitt nach der Schieflage gehörten auch Entlassungen. Nach rund 430 Beschäftigten vor einem Jahr zählt man in Marsberg aktuell 350 Mitarbeiter – deren Arbeitsplätze nun sicher sein sollen. Die Belegschaft soll sogar wieder wachsen, sagt Geschäftsführer Schumacher. Bei Ritzenhoff werden Fachkräfte gesucht: Elektriker, Schlosser, Fachleute für den Einkauf. Rund zehn Millionen Euro seien in den vergangenen Monaten bereits investiert worden. Weitere Investitionen im zweistelligen Millionenbereich stünden fest, sagt Schumacher. Die vor einem Jahr noch nach Polen ausgelagerte Dekoration von Gläsern sei nach Marsberg zurückgeholt worden. „Wir wollen in Zukunft alle Gläser in Marsberg produzieren und dekorieren“, sagt der Ritzenhoff-Chef.
Um dies als energieintensives Unternehmen am Standort Deutschland wirtschaftlich leisten zu können, müsse weiter investiert werden. „Die Glasproduktion hat in Deutschland eine Zukunft, wenn Glas mit billigem Windstrom und auf hocheffizienten, modernen Produktionsanlagen gefertigt wird. Dafür suchen wir Facharbeitskräfte.“ Aktuell zahle Ritzenhoff 600.000 Euro pro Monat für Strom und Gas. Eine hohe Belastung.
Die Produktion der Gläser findet aktuell in zwei Glaswannen statt. Dort wird der Quarzsand auf eine Temperatur von 1530 Grad Celsius gebracht. In den 1,30 Meter hohen Wannen ist das Rohglas flüssig. Anschließend fließt es in jeweils zwei Linien zur Formung der Gläser bei 1100 Grad. Hier hat das Glas eine honigartige Konsistenz.
Befeuert wird die Produktion noch eine Weile mit Erdgas. Die Zukunft aber soll ab 2028 anders aussehen. Dann könnte die Ära des CO2-frei hergestellten Glases beginnen. Laut Geschäftsführer Schumacher steht der Zeitplan schon fest: „Die neue Elektro-Glaswanne ist fertig konzipiert. Wir werden aber im September 2025 zunächst unsere alte Wanne 2 generalüberholen. Das dauert vier Wochen, kostet rund 1,2 Millionen Euro und verlängert die Lebenszeit der Wanne um zweieinhalb Jahre. Anfang 2028 kann die neue Elektrowanne in Betrieb gehen. Den Strom könnten wir aus dem angrenzenden Windpark beziehen. Ziel ist, dass wir zukünftig CO2-freies Glas im Sauerland produzieren.“
Interview mit Investor Robert Tönnies
Die Kosten für die Elektro-Glaswanne schätzt das Unternehmen auf rund 15 Millionen Euro. Eine gasbefeuerte Anlage würde laut Schumacher nicht einmal die Hälfte kosten. Der Investitionsbedarf am Standort Marsberg bleibt also hoch. Gleichzeitig rechnet Ritzenhoff erst ab 2026 mit Gewinnen. Was Schumacher, Tönnies und vermutlich auch die Alt-Gesellschafter der Familie Ritzenhoff/Zeppenfeld optimistisch stimmen dürfte, ist die Entwicklung im Geschäft mit Dekorgläsern für den Privatgebrauch, dem sogenannten Retailgeschäft. „Wir sind 2024 im Retail, in dem wir sehr viel bessere Margen erzielen als im Professional, zweistellig gewachsen.“
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Bislang hat der Glashersteller 80 Prozent seines Umsatzes mit der Herstellung von Gläsern für den Profibereich, also für Brauereien, Brennereien und die Gastronomie, erzielt. Dabei versorgt Ritzenhoff nicht nur die großen Marken im Sauerland, sondern ist weltweit im Geschäft. Spanien und die Beneluxländer sind neben dem DACH-Gebiet mit Deutschland, Österreich und der Schweiz wichtige Märkte. Auch in Asien und Südamerika gibt es Kunden.
Gewinnerwartung erst ab 2026
Die Gewinne in diesem Geschäft waren in den vergangenen Jahren allerdings überschaubar. Der Rückgang des Biermarktes in Deutschland sei bekannt. Außerdem habe sich die Gastronomie noch nicht vollständig von der Pandemie-Zeit erholt, sagt Schumacher, der mit der Entwicklung dennoch sehr zufrieden ist. Mehrere Gründe nennt der erfahrene Sanierer, der seinerzeit schon den angeschlagenen Nürburg-Ring in der Eifel wieder auf Kurs gebracht hatte: zum einen die besondere und bekannte Marke Ritzenhoff. Dann die finanzielle Sicherheit, die Investor Tönnies dem Unternehmen verleihe. Und nicht zuletzt: „Es ist nicht mit neuen Maschinen getan. Das Denken der hier beschäftigten Menschen ist mitentscheidend“, sagt der 69-Jährige, der Spaß am Glas gefunden hat, von dessen Herstellung bis vor zwei Jahren noch keine Ahnung hatte. Schumacher will die Entwicklung der Traditionsmarke noch eine Weile begleiten: „Das Leben entscheidet sich im Kopf. Ich arbeite gerne und bin mit 69 Jahren erfreulicherweise immer noch leistungsfähig. Es ist allerdings mit zunehmendem Alter anstrengender, täglich lange und intensiv zu arbeiten.“
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