Marsberg. Die Glas-Produktion läuft 24 Stunden am Tag 365 Tage im Jahr. Bei einer Mangellage wäre die Marsberger Traditionsfirma ruiniert. Ein Extremfall.

Der Mann trägt ein T-Shirt, weil es warm ist an seinem Arbeitsplatz. Zumindest solange es ihn noch gibt. In der Produktionshalle steht Mehmet Cetinel (56) gerade dort, wo die Gläser an offener Flamme ihren Stiel bekommen. Auf der Innenseite seines linken Unterarms sind vier Namen tätowiert. Der seiner verstorbenen Frau, und die Namen der gemeinsamen Drillinge, heute 15 Jahre alt. „Für sie muss ich stark sein“, sagt er. „Man hört die Nachrichten. Natürlich mache ich mir Sorgen um meinen Arbeitsplatz. Das tun alle hier. Wenn das Gas abgedreht wird, dann können wir zumachen.“

Ritzenhoff: Ohne Gas sind die Maschinen ruiniert und die Arbeitsplätze verloren

Cetinel, Assistent der Produktionsleitung, ist einer von 430 Angestellten der Ritzenhoff AG in Marsberg im Hochsauerland. Ein Familienunternehmen, gegründet vor über hundert Jahren, Marktführer im Bereich Stielgläser in Europa, tief verwurzelt in der Region, bekannt fast überall auf der Welt – und vor einer ungewissen Zukunft, weil es für die wundersame Verwandlung von Sand in Glas große Hitze braucht. Und dafür wiederum derzeit noch: viel Gas. Und zwar – das ist die Besonderheit – 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr. Sonst sind die Maschinen ruiniert, die Firma dicht, die Arbeitsplätze verloren.

+++ „Noch nie so extrem“: Was Schornsteinfeger derzeit erleben +++

„Natürlich mache ich mir Sorgen um meinen Arbeitsplatz“: Mehmet Cetinel ist bei der Firma Ritzenhoff Assistent der Produktionsleitung.
„Natürlich mache ich mir Sorgen um meinen Arbeitsplatz“: Mehmet Cetinel ist bei der Firma Ritzenhoff Assistent der Produktionsleitung. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Einmal angeschaltet, müssen sie laufen“, sagt Axel Drösser, (58), seit Sommer vergangenen Jahres Vorstandsvorsitzender, über die Maschinen. „Wir haben zwei Wannen mit jeweils 30 Tonnen, 1500 Grad heißem, flüssigem Glas.“ Erkaltet es, weil das Gas ausbleibt, handelt sich um einen Totalschaden. Kommt es zum schlimmsten aller Szenarien, einer Gasmangellage, dann ist die Firma Ritzenhoff nichtsystemrelevant, dann bekommt sie kein Gas, während es anderswo noch fließt. Private Haushalte genießen besonderen Schutz.

Forderung an die Politik: mehr Differenzierung

Ritzenhoff, stellvertretend für die Glas-Branche, ist ein Extremfall. Aber er wirft die Frage auf, was im Zweifelsfall zu retten wäre, welche Systeme relevant sind. Denn jeder Mitarbeitende ist ein eigenes kleines System. Das, findet Drösser, werde nicht ausreichend gewürdigt. „Was ich mir von der Politik wünschen würde, ist eine größere Differenzierung. Und ein Blick auf die Frage: Wo kann gespart werden, ohne dass die technische Infrastruktur und alle Arbeitsplätze verloren gehen?“

+++ Gaspreis-Bremse: Heizöl-Kunden wütend wegen Benachteiligung +++

Deutschland befinde sich in einer Krisensituation „und wir müssen“, sagt Drösser, „alles dafür tun, dass wir unsere Industrie erhalten und sie nicht unrettbar und unwiederbringlich verloren geht.“ Es geht um Wohlstand und die Frage, wie er dauerhaft zu bewahren ist. „Fragen Sie mal unsere Mitarbeiter: Die ziehen sich lieber zu Hause einen dickeren Pulli an, als dass sie es dort schön warm haben – und die Rechnung nicht mehr bezahlen können. Viele Mitarbeiter machen sich Sorgen um ihre persönliche Zukunft, ihren Arbeitsplatz, ihre Miete.“

Energiebedarf im Jahr: 100 Gigawattstunden

Dort, wo das Gas in der Produktionshalle von Ritzenhoff ankommt, verzweigen sich die gelben, oberschenkeldicken Rohrleitungen in alle Richtungen. Überall wird es gebraucht. Permanent. 100 Gigawattstunden beträgt der Energiebedarf pro Jahr. Das entspricht der Menge, die im Schnitt rund 30.000 Zweipersonenhaushalte benötigen. Wie heißer roter Honig fallen handgroße Tropfen in die Formen, Flammen züngeln Sekunden später über das Glas hinweg.

Der Chef und sein Produkt: Vorstandsvorsitzender Axel Drösser.
Der Chef und sein Produkt: Vorstandsvorsitzender Axel Drösser. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Von der Bundesnetzagentur, sagt Drösser, heißt es, dass sie eine mögliche Gasmangellage etwa anderthalb Wochen vorher absehen kann. „So kurzfristig können wir hier aber nicht reagieren, ohne die Maschinen zu ruinieren.“ Die Wannen können zwar abgelassen werden, das ist aber aufwändig und dauert drei Wochen. Alternative: Sie in den Haltebetrieb zu versetzen. „Dann sparen wir 50 Prozent der Energie - bei keinem Umsatz.“ Also: keine Alternative.

Corona hat der Firma zugesetzt, der Umsatz im Jahr 2020 schmolz auf 46 Millionen Euro, der Verlust betrug rund zehn Millionen Euro. Energie sei in Deutschland ohnehin viel teurer als in anderen europäischen Ländern, mit deren Produzenten Ritzenhoff im Wettbewerb steht, sagt Drösser. Drei- bis viermal so viel wie bisher wird die Energie in diesem Winter kosten.

Kritik an der Politik: „Wir brauchen Planungssicherheit - und zwar schnell“

„Der Druck auf unsere Wettbewerbsfähigkeit wird immer größer“, sagt der Chef. Er sehe das Interesse der Kunden für das nächste Geschäftsjahr. „Aber ich muss ihnen bald Preise nennen – und das kann ich nicht, weil ich keine Planungsgrundlage habe, weil ich nicht weiß, welche Rahmenbedingungen uns die Politik beschert. Alles, was ich seit Wochen höre, sind Absichtserklärungen, aber was wir brauchen, ist schnelle Planungssicherheit. Das alles zusammen ist ein herausforderndes Umfeld, das keinen Raum für Fehler lässt.“

+++ Experte rät: Mit diesen sechs Tipp sparen Sie eine Menge Heizkosten +++

Die Firma hat längst einen Krisenstab zu Energiefragen eingesetzt. Es gibt einen Plan B: Bis zur Hälfte der benötigten Energie könnte über Propangas generiert werden. Wobei nicht klar ist, ob es welches gibt, wenn man es braucht, und was es dann kosten wird. Viele Fragen, viele Unwägbarkeiten. Aber auch Kampfgeist. „Wir wollen und werden kämpfen, um dieses Traditionsunternehmen durch die Krise zu bringen. Jeder einzelne Mitarbeiter gibt hier seit geraumer Zeit alles und noch mehr“, sagt Drösser: „Dafür bin ich wirklich sehr dankbar.“

Mitarbeiter wie Mehmet Cetinel, der Mann mit den Drillingen, der sich nach dem Tod seiner Frau in die Arbeit stürzte. „Ich bin seit vielen Jahren hier. Wir haben so etwas noch nicht erlebt. Corona war schon eine Krise, aber das hier ist noch einmal heftiger.“ Aber er sagt auch, dass es immer weiter geht. Wie? Das wird auch woanders entschieden.

<<< HINTERGRUND >>>

Die Geschäftserwartungen der Produzenten von Glas, Keramik, Steinen und Erden sind auf den schlechtesten Stand seit 1991 gesunken. Eine Umfrage des Ifo-Instituts ermittelte im September für diese energieintensive Sparte einen Wert von minus 62 Punkten. „Die getrübte Stimmung im Bau, sehr hohe Energiepreise und die Unsicherheit über die weitere Gasversorgung lassen die Branche so pessimistisch wie noch nie in die Zukunft blicken“, sagt ifo-Branchenexperte Nicolas Bunde. Die Branche hat in der Industrie einen der höchsten Anteile der Energiekosten am Produktionswert.