Lüdenscheid. Anwohner sind aufgebracht, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt. Und selbst die Wirtschaft hat Fragen, die keiner beantwortet.
Niemand hat einen besseren Blick auf Deutschlands bekannteste Baustelle als Frank Pütz. Er schaut von seinem Grundstück auf beide Hänge, auf denen derzeit die Talbrücke Rahmede in Lüdenscheid neu entsteht. Hoch oben, wo die neue Brücke ansetzen wird, dringen zwei riesige Bohrinstrumente in den Boden. Ihr Getöse dröhnt durchs ganze Tal. Frank Pütz ist verärgert. „Bei der Bürgerversammlung im Herbst habe ich die Verantwortlichen so verstanden, dass die Arbeiten Sonn- und Feiertagen ruhen werden“, sagt er. „Was soll das dann jetzt?“
Er meint die Mitteilung, mit der die Autobahn GmbH Westfalen kürzlich überraschte: Ab sofort werde auch an Sonn- und Feiertagen am Neubau gearbeitet. An Karfreitag wird also Betrieb im Rahmedetal sein, ebenso an Ostermontag, Christi Himmelfahrt (9. Mai), Pfingstmontag (20. Mai) sowie an Fronleichnam (30. Mai). An jedem Sonntag bis Juni ebenfalls. Ausnahme: Ostersonntag. Eine Kehrtwende.
Mehrschichtbetrieb? Unmöglich wegen des Schutzes der Anwohner
Denn: Im vergangenen Herbst, als der Auftrag für den Neubau vergeben war, wurde bereits öffentlich darüber diskutiert, ob nicht rund um die Uhr oder wenigstens im Mehrschichtbetrieb gearbeitet werden könne, um das Projekt möglichst schnell vorantreiben zu können. Vor allem die Wirtschaft hatte das gehofft und gefordert. Antwort der Autobahn GmbH damals an diese Redaktion: „Die konkrete Arbeitsdisposition obliegt dem Auftragnehmer. Dabei ist er an die geltenden Gesetze und Vorschriften – unter anderem die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Schutz gegen Baulärm – gebunden.“ Und jetzt? Ist alles anders. Verwirrung überall.
Ralf Geruschkat, Hauptgeschäftsführer der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer, zeigt sich noch immer irritiert, obwohl er die neue Regelung befürwortet. „Als der Neubau vergeben war, hieß es, dass Arbeiten an Ruhetagen rechtlich wegen Baulärmvorschriften nicht möglich seien. Jetzt geht es überraschenderweise auf einmal doch. Daher wünschen wir uns erneut, dass auch in Zukunft ausgeschöpft wird, was rechtlich möglich ist, um den Neubau so schnell wie möglich zu realisieren. Jeder Tag zählt.“ Eine Studie hatte ergeben, dass an jedem Tag der Sperrung ein volkswirtschaftlicher Schaden von einer Million Euro entstehe.
SIHK fordert mehr Kommunikation und mehr Transparenz
Vor allem müsse wieder mehr miteinander geredet werden. „Es stehen viele Fragen im Raum, die auch bei uns auflaufen und auf die wir keine Antwort haben“, sagt Geruschkat, „die Wirtschaft hat vom ersten Tag an einen transparenten und nachvollziehbaren Bauzeitenplan eingefordert, den gibt es nach wie vor nicht. Die Spitzentreffen zur A45, auf denen regelmäßig zum aktuellen Stand berichtet wurde, finden auch schon seit längerer Zeit nicht mehr statt.“ Die öffentliche Forderung der SIHK blieb bisher unbeantwortet, sagt Geruschkat. Es brauche wieder mehr Transparenz und mehr Kommunikation.
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Die Anwohner sind nicht weniger irritiert. Die Autobahn GmbH begründet den Schritt damit, vor allem „beim Betonieren die notwendigen Abläufe einhalten zu können“. Frank Pütz würde lachen, wenn die Sache denn lustig wäre für ihn. „Wir fliegen zum Mars, aber die Betonarbeiten an der Brücke bekommt man nicht so koordiniert, dass es ohne Sonn- und Feiertagsarbeit funktioniert? Dafür fehlt mir der Humor. Das regt mich auf“, sagt er. Natürlich sei es wünschenswert, dass die neue Brücke schnell stehe. „Aber das wird jetzt auf dem Rücken der Anwohner ausgetragen. Wenn alle aufatmen, weil die Brücke 2026 wieder auf der einen Hälfte befahren werden kann, dann haben wir immer noch ein Jahr Baulärm vor uns“, sagt Pütz.
Keine lärmintensiven Arbeiten an Sonn- und Feiertagen
Anwohner wie er, die nah genug an der Brücke wohnen, erhalten Ausgleichszahlungen. Überschreitet der Baustellenlärm 65 Dezibel am Tag, erhalten sie Geld in Höhe der Kosten einer Übernachtung in einem Hotel in der Region. Hinzu kommt eine Verpflegungspauschale. Für etwa 40 Haushalte gilt diese Regelung. Der Haken: Es handelt sich um einen Mittelungspegel. Heißt: Belastungsspitzen können über den Tag durch ruhigere Phasen wieder ausgeglichen werden. Dann war es womöglich trotzdem den halben Tag lang laut – aber Geld gibt’s keines. So wie derzeit. Pütz sagt, dass es im Januar und Februar für lediglich zwei Tage Geld gegeben habe.
A-45-Brücke: So sieht es derzeit an der Baustelle aus
Aber laut soll es ja gar nicht werden, sagt die Autobahn GmbH. „Sowohl die Sonntagsarbeit als auch die Arbeiten an Feiertagen sind genehmigt. Es wird darauf geachtet, an diesen Tagen keine lärmintensiven Arbeiten auszuführen“, heißt es in der Mitteilung. Wie eine eindeutige Regelung klingt das in den Ohren der Anwohner nicht. „Die lassen vielleicht die Bohrer nicht laufen, aber wie man auf einer Baustelle arbeiten will, ohne Lärm zu produzieren, das möchte ich gern wissen“, sagt Carolin Tillmann-Hein, die ein paar hundert Meter weiter die Straße hoch von Pütz entfernt wohnt. Nah genug an der Brücke, um den Lärm zu hören, weit genug weg, um keinen Anspruch auf Zahlungen zu haben. Allein das nervt sie, aber auch die fehlende Kommunikation, wie sie sagt.
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Von der geplanten Feiertagsarbeit habe sie aus der Zeitung erfahren. „Grundsätzlich freue ich mich ja über jeden Tag, an dem es auf der Baustelle rattert, denn dann weiß ich: Es geht voran. Und es geht wirklich zügig voran“, sagt sie aus eigener Beobachtung. Andererseits: „Ich kann kein Fenster mehr aufmachen. Ich bin total gestresst vom Lärm. Als ich von der Feiertagsarbeit hörte, habe ich direkt Urlaub gebucht. Ich muss mal weg. Flucht von zu Hause.“ Und der Sommer, in dem man die Fenster häufiger mal öffnet oder draußen sitzt, kommt erst noch. „Wir versuchen schon jetzt, an Wochenenden nicht zu Hause zu sein und mal raus zu kommen“, sagt Carolin Tillmann-Hein.
Bauzeitenplan ist „ein internes Werkzeug“ und damit „nicht für die Öffentlichkeit“ bestimmt
Auf aktuelle Nachfrage dieser Redaktion begründet die Autobahn GmbH Westfalen ihr Vorgehen, ohne zu beantworten, warum diese Arbeiten an Ruhetagen nun plötzlich doch möglich sind, nachdem es erst anders schien. Die Arbeiten fänden statt, „damit die Baufirma ihr Personal optimal planen und einsetzen kann. Die Personaldisposition obliegt immer dem Auftragnehmer“, heißt es in der Antwort. Den Vorwurf, nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Neubau schneller zu realisieren, mag die Autobahn GmbH nicht stehen lassen. Sie verweist auf die Sonderzahlungen für den Auftragnehmer, wenn die Brücke schneller als vereinbart wieder in Betrieb genommen werden kann.
Auf mehr Transparenz hoffen Bürger, Anwohner und Wirtschaft offenbar vergeblich. Der Bauzeitenplan sei „ein internes Werkzeug“ und werde ständig angepasst. „Damit ist der Plan nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“, teilt die Autobahn GmbH mit: „Die wesentlichen Eckdaten des Projektes sind öffentlich bekannt.“ Sie beschränken sich allerdings darauf: Fertigstellung erste Brückenhälfte bis Sommer 2026. Freigabe der gesamten Brücke: drittes Quartal 2027.