Lüdenscheid. Lüdenscheid nimmt mit diffusen Gefühlen Abschied von der Talbrücke Rahmede. Über Traurigkeit, Woodstock, Giftschlangen und AC/DC.
Als sich der dichte braune Baustaub aus dem Rahmedetal verzogen hat, tritt Michael Schneider vor die Mikrofone. Neben ihm die Gesteinsmassen einer ehemaligen Brücke. Ehe er etwas sagen kann, wird er von Anwohnern, die gerade in ihre gespenstisch stille Straße zurückkehren, mit Applaus und Jubelrufen bedacht, als wäre er eine begehrenswerte Berühmtheit. „Moment mal, Moment mal“, geniert sich der Sprengmeister in feinstem Sächsisch: „Ich bin doch nicht AC/DC.“
Rahmedetalbrücke in NRW erfolgreich gesprengt
weitere Videos
Das ist soweit unstrittig, aber Tausende Menschen sind am Sonntag einzig und allein für seine Show nach Lüdenscheid gekommen: Die Sprengung der Talbrücke Rahmede, die wegen Einsturzgefahr seit Dezember 2021 gesperrt ist – und mit ihr die wichtige Nord-Süd-Verbindung Autobahn 45. Ein Infrastrukturdesaster erster Güte.
Seither quält sich der Verkehr durch Lüdenscheid. Anwohner sind mit den Nerven am Ende und die Wirtschaftsbetriebe ächzen unter den Standortnachteilen. 130 Journalisten hatten sich für die Sprengung angekündigt, der WDR übertrug live.
Ein Tag diffuser Emotionen
Deutschlands derzeit bekannteste Brücke – steht nun nicht mehr. „Sie hat sich artig genauso ins Fallbett gelegt, wie wir das berechnet haben“, sagt Schneider, als habe er eine Giftschlange mit festem Blick in den Schlaf gezwungen. Um 12 Uhr am Mittag löst er die Sprengung aus, die immense Druckwelle ist noch hunderte Meter weiter auf den Seitenwänden des Tals zu spüren. „Ich bin einfach nur happy, happy, happy, dass alles so gelaufen ist.“ Eine Selbstverständlichkeit ist dies wegen des engen Tals, der steilen Topographie und der Infrastruktur unter der Brücke (Hauptstraße, Galvanikbetrieb, Wohnhaus) nicht.
Es ist ein Tag diffuser Emotionen in Lüdenscheid. Auf einer Wiese oberhalb der Kirchengemeinde Oberrahmede verfolgen allein Hunderte Besucher die Sprengung: Sie sitzen auf mitgebrachten Picknickdecken, Campingstühlen oder sogar richtigen Gartenmöbeln, essen Käsehäppchen und Wassermelone. Unten am Gemeindehaus gibt es Bratwürstchen, Waffeln und Eis im Hörnchen. Volksfeststimmung. „Hat was von Woodstock“, sagt einer und lacht.
Ein Leben mit der Brücke
Wer es noch nicht getan hat, holt um 11.59 Uhr sein Handy raus. Selfies mit Kind und ohne Kind, mit Zunge raus und Zunge drin – aber immer mit Brücke. Die letzen Bilder dieser Art. Ein Knall, um die Tiere zu vertreiben, lässt den Puls hochschnellen. Ein weiterer Knall: die Pfeiler knicken ein, die Brücke stürzt zu Boden, Baustaub steigt in die Höhe und verdunkelt den Himmel.
Ein Raunen.
Applaus auf der Wiese.
Erleichterung.
Aber nicht nur.
Dirk Graul steht auch Minuten später noch reglos da und schaut dorthin, wo die Brücke mal war. Ungläubig macht er ein Foto vom Tal. „Die Brücke war ein halbes Jahr jünger als ich“, sagt er. Soll heißen: Er hat sein Leben mit ihr verbracht, er ist unter ihr her zur Arbeit gefahren. 1968 ist sie eröffnet worden, konzipiert für 20.000 Fahrzeuge am Tag. Zuletzt befuhren sie mehr als 60.000.
„Hast du genug getrauert?“
„Hast du genug getrauert“, ruft Grauls Nachbar Mike Bastian, halb im Scherz, halb im Ernst. Zusammen sind sie mit dem Fahrrad gekommen. „Da isse weg“, sagt Graul noch zum Abschied, dann schwingt er sich aufs Fahrrad.
Ein paar Meter weiter klirren Sektgläser aneinander. Prost und Wohlsein – auf den großen Tag. Nachbarn, die an der Bedarfsumleitung wohnen, feiern den Tag, obwohl ihnen die Laune längst vergangen sein müsste.
„Wir haben die Autobahn im Schlafzimmer, im Garten, im Wohnzimmer“, sagt Stefanie Wachs. Und ihr Mann assistiert: „Wir werden in den kommenden fünf Jahren nicht viel Spaß haben, aber heute feiern wir Sprengparty.“ Er lacht dabei, obwohl er es irgendwie auch ernst meint.
Lüdenscheid ist zerrissen zwischen Abbruch und Aufbruch
Hannelore Adolph gehört auch zu dieser Gruppe, sie hat noch mitbekommen, wie die Brücke damals gebaut wurde. Sie kennt also auch den Anblick ohne das Bauwerk. „Schön sieht das Tal aus“, sagt sie.
Lüdenscheid ist zerrissen, gefangen zwischen Abbruch und Aufbruch – und der Gewissheit, dass alles noch so lang dauern wird. Frühestens 2026 soll eine die erste Hälfte der neuen Brücke stehen und der Verkehr wieder über die A 45 rollen.
Skepsis begleitet die Politik und alle Entscheidungen
Skepsis begleitet die Politik und die anderen Entscheidungsträger seit dem ersten Tag. Carsten und Gaby Beckmann wohnen 170 Meter von der Brücke entfernt. Sie und ihre beiden Kinder haben sich im Februar Pullover anfertigen lassen. Sie tragen ihn an diesem Tag alle. „Spreng das Ding“ steht auf dem Textil. Auf der Rückseite: Signalwörter aus den vergangenen anderthalb Jahren: Chefsache zum Beispiel, Verkehrskollaps, Beschleunigung, Fledermaus, Haselmaus.
Ihr stiller Protest gegen – wie sie finden – allzu viele bürokratische Hürden und politische Bedenken. Weil sie es ja sind, die unter dem Verkehr und allen anderen Folgen leiden. „Wir haben hier keine Lebensqualität mehr. Heute ist ein Tag, der in die Zukunft zeigt. Aber wir wissen nicht, was uns dort noch alles erwartet.“
Jubel in Lüdenscheid: A-45-Brücke erfolgreich gesprengt
Sie haben vermutlich einen Ad-Blocker aktiviert. Aus diesem Grund können die Funktionen des Podcast-Players eingeschränkt sein. Bitte deaktivieren Sie den Ad-Blocker,
um den Podcast hören zu können.
