Bottrop. Nach dem Pisa-Schock: Bottroper Schulleiter benennt Probleme bei Schülern und Eltern. Vieles sei aber auch systembedingt. Da müsse man ran.
Deutsche Schülerinnen und Schüler haben bei der neuesten Pisa-Studie so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor. Mathematik. Lesen, Naturwissenschaften: Zwar haben die Leistungen auch in anderen OECD-Staaten (Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit) nachgelassen, in Deutschland im internationalen Vergleich aber besonders stark.
Dass ein Viertel der 15-Jährigen nicht das Mindestniveau beim Lesen erreicht hat, schockiert auch außerhalb des Schulumfelds, etwa die bekannte Kinderbuchautorin Kirsten Boie, die sich jüngst in der Wochenzeitung „Die Zeit“ äußerte. Sind die Schüler dümmer als früher, liegt es an den Eltern, daran, wie Schule arbeiten kann und soll? Ersteres sicher nicht, wohl aber stünden die Jugendlichen vor größeren Herausforderungen als vielleicht noch vor 25 oder 30 Jahren, so der Leiter einer weiterführenden Schule in Bottrop.
Ergebnis der Pisa-Studie war kein Schock, sondern eher „vorhersehbar“
Aber für Lehrermangel, deren ungleiche Verteilung, oder ein veraltetes System, das viel zu früh selektiere und einfach hinnehme, dass viele Schüler überhaupt keinen Abschluss erreichten, können Eltern oder Schüler nichts. Neben einem persönlichen schwierigen Start in ein geordnetes Berufsleben sei diese Entwicklung aber auch gesellschaftlich fragwürdig, so der Schulleiter, der bereit war, sich für ein anonymisiertes Gesprächsprotokoll mit der WAZ zu treffen. Direkt vorweg: Schockiert hat ihn die neue Pisa-Studie nicht. „Das war vorhersehbar.“
Aber natürlich sei es zunächst tragisch, wenn manche ab der fünften Klasse noch derartige Rechtschreib- oder Leseschwächen hätten, so dass sie zum Teil Texte oder Aufgabenstellungen nicht verstehen oder elementare Rechenaufgaben nicht lösen können. Von 30 bis zu 40 Prozent ab den fünften Klassen spricht der Pädagoge. Dabei wären ein bis zwei Schülerinnen oder Schüler pro Klasse normalerweise schon zu viel in einer weiterführenden Schule. Jugendliche ohne Abschluss und Perspektive auf einen Beruf in einem Land, das händeringend nach qualifizierten Arbeitskräften sucht, das könne man sich eigentlich nicht leisten.
Welche Rolle spielt dabei das Elternhaus? Kann Schule darauf noch bauen? Zunächst weiß man, dass bei fast allen Schülern beide Elternteile arbeiten, das bedeutet dann fast automatisch auch weniger Kontrolle, weniger Führung, das übernimmt die Schule dann noch mit. „Natürlich merken wir als Schule, wie sich die Gesellschaft auch kulturell durch Zuwanderung ändert. Bildung steht da oft nicht im Vordergrund, oft haben die Eltern selbst keinen oder einen sehr geringen Bildungshintergrund oder sie kennen das hiesige System nicht, was aber durchaus auch für deutsche oder bereits hier aufgewachsene Eltern gilt.“ Sicher, es gebe da Ausnahmen, die dann oft besonders herausragten, aber wie gesagt: Eher Ausnahmen, nicht die Regel.
Gewalt an der Schule und gegen Lehrer: Mit Extremfällen werden Schulen oft allein gelassen
Das gilt auch für Gewalt und extreme Störenfriede: „Wer sagt, an seiner oder ihrer Schule in Bottrop gebe es keine Gewalt, lügt. Sicher, die Jugend-Gang, die in Bottrop für Aufsehen sorgte, ist so nicht mehr aktiv, die beiden Köpfe der Bande sind nicht mehr an Bottroper Schulen, aber natürlich gibt es diese Art von Gewalt weiter. Aber auch die, die durch andere Kulturen oder Gesellschaftsmodelle hierhin kommt.“ Als Mitglieder des Kollegiums aber direkt angegangen worden seien, bis hin zu körperlicher Bedrohung, sei schon heftig gewesen. „So etwas kannten wir vorher nicht.“
Die Situation, dass ein arabisch-stämmiger Vater, der sich vor einer Lehrerin aufbaut und meint, als Frau habe sie seinem Sohn nichts zu sagen, gibt es auch hier. Dass allerdings türkisch-libanesische Clan-Mitglieder in der Schule auflaufen und drohen, wie er es von Nachbarstädten weiß, kennt er in Bottrop bislang nicht. Gefahr von körperlicher Gewalt durch Eltern sei extrem selten, verbale Angriffe passierten dagegen schon.
Man fühlt sich oft ausgebremst, weil Eltern nicht mitziehen, oder auch alleingelassen. „Wieso muss ich als Schulleiter zum Beispiel einen Ersatzschulort für extreme Problemfälle suchen, die von der Schule verwiesen werden und die andere Schulen sicher nicht wollen?“ Sozialbereich, Jugendamt und Schule müssten da viel vernetzter arbeiten. Zum Glück sei man da in Bottrop etwas aufgewacht, Sozialdezernentin Karen Alexius-Eifert und andere haben den Austausch schon vorangetrieben.
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Aber Gewalt geht auch anders: Schultoiletten, über deren Zustand zuletzt so oft die Rede war und deren Alter sicher bemerkenswert sei, zerstörten und verschmutzten sich ja nicht von selbst oder durch normalen Gebrauch, da stecken natürlich Schüler hinter. Andersherum: Wird aber etwas erneuert oder Schäden sofort beseitigt, zöge die Schülerschaft oft mit und achte auf dann ihr Umfeld.
Wo krankt es aber im System? Gibt es zu viel Flickschusterei, hat Schulpolitik die Wirklichkeit vor Ort im Blick, müsste sie auch mit Blick auf bei Pisa besser abschneidende Länder eine Kehrtwende vollziehen? „Radikal betrachtet sollte man das ganze Schulsystem am besten einstampfen, vor allem die frühe Selektion des dreigliedrigen Systems (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) im Grundschulalter.“ Das gebe es so heute in kaum einem anderen Land in Europa, in denen, die bei Pisa besser sind, ohehin nicht.
Die zu frühe Schulempfehlung in der vierten Klasse sei zumeist für die Katz: „Einmal wirft man so nur einen Blick auf das Kind in diesem spezellen Moment, dabei haben wir zuweilen tolle Abiturienten, die ,nur‘ eine Hauptschulempfehung hatten und außerdem wird die Empfehlung ja kaum beachtet, weil fast alle Eltern ungeachtet der Entwicklung und Fähigkeiten ihr Kind auf dem Gymnasium sehen wollen.“
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Er und die allermeisten aus dem Kollegium seien längst nicht mehr nur Wissensvermittler der jeweiligen Fächer. „Das Fach, um das es geht, steht oft ganz unten auf der Liste.“ Sozialarbeit, Verwaltungsballast, Statistiken führen, Sauberkeitskontrollen und dann Eltern, die sich über Schulnoten beschweren, statt mit ihren Kindern mal zu lernen oder Hausaufgaben machen. „Man müsste einen Beratungskontext aufbauen, viele fachfremde oder nicht pädagogische Aufgaben könnten gebündelt und zum Beispiel von Sozialarbeitern oder anderen Kräften übernommen werden.“
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Und dann sei da noch eine Verteilung der Lehrerstellen, die die Region Ruhrgebiet zu großen Teilen auch strukturell belaste. „Warum hat Münster und große Teile des Münsterlandes eine Lehrerabdeckung von 120 Prozent, während Bottrop und große Teile des Ruhrgebiets eine von 90 Prozent hat“, fragt sich der Schulleiter. Dieses Verhältnis treffe auch für seine eigenen Schule zu. Was spräche dagegen, dass NRW seine Lehrer gleichmäßig verteilt?
Fazit des Schulleiters: Es gebe wieder die großen Betroffenheit nach der Studie, den erwartbaren „Pisa-Schock“. Alle, vom Schulminstrium bis zum Schulträger wüssten, was getan werden müsste. Aber auf den so oft in der Politik beschworenen großen „Ruck“ oder gar eine „Zeitenwende“ hoffe er zwar, nur glaube er nicht, dass dies passiert. Bis zum nächsten Pisa-Schock.