Siegen. Herrengarten oder Neue Ufer: Bei der Innenstadt-Wiederbelebung blickt Frankreich bewundernd auf Siegen: Weil‘s in Deutschland so kompliziert ist.

„Wir haben Städte gesucht, die etwas Besonderes sind, die etwas geschafft haben“: Drei französische und drei deutsche Kommunen hat das Deutsch-Französische Zukunftswerk (DFZ) anderthalb Jahre lang begleitet: Pau, Lyon und Dünkirchen in Frankreich; in Deutschland München, Marburg und Siegen. Städte, die laut DFZ ambitionierte Ziele in Sachen nachhaltiger Stadtentwicklung hatten und haben; die lebenswerte Orte sein und bleiben wollen.

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Stéphanie-Fabienne Lacombe, wissenschaftliche Mitarbeiterin des DFZ, hat in Siegen Feldforschung betrieben. Nun, da der Themenzyklus abgeschlossen ist und sich das DFZ mit anderen Städten dem Thema Energie- und Wärmewende zuwendet, bescheinigt sie Siegen: Bei der Wiederbelebung des Zentrums handelt die Stadt vorbildlich. Vor allem mit drei Projekten: Siegplatte/Neue Ufer, Herrengarten/Bürgerpark und Umweltspur. Und hier auch hinsichtlich des Durchhaltevermögens: In Frankreich seien derartige Vorhaben deutlich einfacher umzusetzen.

Das Deutsch-Französische Zukunftswerk: Städte wie Siegen wollen den Wandel - aber...

Mit dem Aachener Vertrag von 2019 strebten Deutschland und Frankreich eine vertiefte Zusammenarbeit in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Technologie an, das DFZ wurde gegründet. Ziel: Gesellschaftliche Veränderungen begleiten, zu bestimmten Themen Handlungsempfehlungen erarbeiten - gewissermaßen Best-Practice-Beispiele in den Kommunen, als Vorbild für andere. Dabei sind auch die nationalen Regierungen gefragt. Wenn es darum geht, in der Stadt den Platz neu zu verteilen, mehr davon der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, muss die Stadt auch in der Lage dazu sein.

Die Treppenanlage an Siegens „Neuen Ufern“ (Archiv): Das Projekt wird nach 12 Jahren mit dem Bürgerpark Herrengarten 2024 erst richtig fertig.
Die Treppenanlage an Siegens „Neuen Ufern“ (Archiv): Das Projekt wird nach 12 Jahren mit dem Bürgerpark Herrengarten 2024 erst richtig fertig. © WP | Hendrik Schulz

Nicht nur in Siegen, so das Fazit, scheitert es nicht am Willen und an guten Ideen. Sondern an Geld, der Rechtslage, komplizierten Prozessen, überbordender Bürokratie und zu wenig Personal. „Wir haben gemerkt, die Städte wollen Dinge verändern, aber es geht oft nicht weiter, weil die Rahmenbedingungen es verhindern“, so Stéphanie Lacombe. Vor Ort brauche es mehr Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten, fordert auch Marlene Krippendorf, Stadtplanerin bei der Siegener Verwaltung, die eng mit der DFZ zusammengearbeitet hat.

Die Handlungsempfehlungen: Städte wie Siegen brauchen mehr Kompetenzen vor Ort

Grüne Infrastruktur ausbauen: Städte sollen Wasser speichern, sich im Sommer weniger aufheizen. Dafür braucht es mehr Bäume und Grünflächen.

Bodenpolitische Instrumente anpassen: Werden Grün- und Freiflächen als ein Stück Ökosystem zurück in die Städte geholt, braucht es Flächenreserven, ähnlich wie bei Wohn- oder Gewerbegebieten. In Frankreich gibt es einen öffentlichen Grundstücksfonds: Flächen ankaufen, Industriebrachen renaturieren, das Eigentum dann an die Kommunen übertragen. Es liege eher nicht daran, dass die deutschen Kommunen nicht wollen, sagt die Wissenschaftlerin, sondern dass sie viel nicht dürfen. Das nerve die Beteiligten, „sie verzweifeln selber“.

Öffentliche Räume aufwerten: Fördert die Akzeptanz in der Bevölkerung. Bei knappen Flächen gibt es immer auch Konflikte.

Siegen ist auf den ersten Blick eine sehr, sehr autofreundliche Stadt.
Stépanie Lacombe - Wissenschaftliche Mitarbeiterin DFZ

Beteiligungskultur stärken: „Eine nachhaltig wirksame und gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung muss gemeinsam mit den Menschen von Ort gestaltet werden“, so das DFZ. Auf die Bevölkerung zugehen, die Vision dahinter erklären. „Ein mühsames Geschäft“, sagt Stéphanie Lacombe. Schon die Entfernung der Siegplatte wurde auch von viel Kritik begleitet (die weitgehend verstummt ist), heute ist es die Umweltspur.

Straßenraum neu gestalten: Für das Auto ist viel Platz vorhanden, in Deutschland wie in Frankreich. Aber „nur ein Teil der Bevölkerung profitiert davon“, so das DFZ. In Frankreich wurde das Pendant zur Straßenverkehrsordnung bereits 2008 geändert, seither haben zahlreiche Städte flächendeckend Tempo 30 eingeführt. Paris zum Beispiel „wollte nicht mehr Autostadt sein“, erklärt Lacombe - Bürgermeisterin Anne Hidalgo schloss Straßen für Autos, baute Radwege und den ÖPNV aus. „Paris hat sich in ein paar Jahren total verändert“, so die Wissenschaftlerin. Es gibt die Infrastruktur, „die braucht man erstmal, um Fahrrad zu fahren.“ Das könne auch anderswo funktionieren.

ÖPNV finanziell absichern: Wird der Straßenraum umverteilt, braucht es Alternativen - laut DFZ einen modernen, barrierefreien Nahverkehr mit angemessener Taktung. Bund und Länder könnten hier unterstützen - etwa über eine zweckgebundene Mobilitätsabgabe, wie es sie in Frankreich „unhinterfragt“ seit den 80er Jahren gibt: Firmen mit einer gewissen Belegschaftsgröße werden zur Co-Finanzierung herangezogen. In Deutschland fürchte man dagegen die Abwanderung der Unternehmen durch weitere Belastung.

Experimentierlösungen ermöglichen: Vorher testen, ob‘s klappt und wie‘s ankommt, etwa mit „Pop-up-Radstreifen“ oder vorübergehender Begrünung von Plätzen. Anhand Erfahrungen und Rückmeldungen könne man dauerhaft planen.

Die Vorbild-Projekte in Siegen: Durchhaltevermögen bei Siegplatte, Herrengarten, Umweltspur

Im Vorfeld der Zusammenarbeit hatte das DFZ nach vorbildlichen Kommunen gesucht. „Wir haben uns für Siegen entschieden“, sagt Stéphanie Lacombe. „Das haben wir als eine besondere Ehre empfunden“, betont Marlene Krippendorf. Durch die positiven Rückmeldungen Außenstehender fühle man sich bestärkt, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, gerade weil der Umbau der Innenstadt oft kritisiert wird. Auch der Austausch mit dem Netzwerk des DFZ sei wertvoll, um Siegener Maßnahmen und Ideen mit anderen Städte zu vergleichen. „Hier müssen wir uns keineswegs verstecken, sondern können sehr selbstbewusst sagen: Es ist gut geworden!“, so Krippendorf.

Wir müssen uns keineswegs verstecken, sondern können sehr selbstbewusst sagen: Es ist gut geworden!
Marlene Krippendorf - Stadtplanerin, über den Innenstadt-Umbau

Mit dem Herrengarten habe die Stadt Durchhaltevermögen bewiesen, lobt Lacombe. Siegen nahm Geld in die Hand für eine Grünfläche in zentralster Lage, statt sie teuer zu verkaufen. „Siegen hat sich aber anders entschieden, macht in Zeiten des Klimawandels einen Park für die Menschen daraus und verzichtet auf mögliche Einnahmen. Das ist schon beeindruckend“, findet Lacombe. Für die französische Seite sei das insofern spannend, weil es im Nachbarland sehr viel einfacher sei, solche Projekte umzusetzen: „Die haben einen Fonds, der genau so etwas tun kann.“ In Deutschland muss höchst aufwendig und langwierig Fördergeld beantragt werden. Dennoch habe sich Siegen durchgebissen.

Siegens Vorreiterrolle mit den Neuen Ufern: Stadt nicht mehr nur fürs Auto, sondern schön

„Siegen ist auf den ersten Blick eine sehr, sehr autofreundliche Stadt“, sagt Stéphanie Lacombe, mit acht (inzwischen noch sechs) durchgehenden Fahrspuren zwischen Nord und Süd. „Die Menschen gehen weniger zu Fuß - dadurch stirbt die Innenstadt.“ Der Abriss der Siegplatte 2012 sei hier in einer Vorreiterrolle zu sehen: Ein Paradigmenwechsel für die stadt - das Zentrum soll nicht mehr nur fürs Auto und Konsum da, sondern schön, begrünt, lebenswert sein. „Damals war das Thema noch nicht so wichtig wie heute. Das war etwas Besonderes.“ Auch die Kampagne zu den Neuen Ufern, mit Baustellenführungen und Abrissparty: „Es ist nicht bei einem Aushang geblieben, sondern wurde emotional gut kommuniziert“, so die Wissenschaftlerin. „Das ist auf viel Bewunderung gestoßen.“ Die Stadt habe es geschafft, das Projekt positiv zu deuten: „‘Wir feiern den Abriss, verschönern die Innenstadt, alle machen mit‘ - auf die Idee muss man erstmal kommend. Das ist inspirierend!“ Es lohne sich, solche Dinge anzugehen, ob die Chancen gut stehen oder schlecht. Man könne immer das Beste aus dem machen, was da sei - viel zu oft werde das nicht getan, „man traut es sich nicht zu oder hat Angst vor Widerstand.“

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Die Umweltspur: Noch ein Thema, bei dem eher die Hartnäckigkeit die französischen Partner erstaunt, weniger das Projekt selbst. Denn in Frankreich sei es sehr viel leichter, Verkehrsprojekte umzusetzen, erklärt die Wissenschaftlerin. Im Unterschied zu deutschen Kommunen, wo nationale Regelungen oft enge Leitplanken setzen. „Die Siegener haben es trotzdem gemacht“, sagt Stéphanie Lacombe.