Siegen. Für eine attraktive Stadt braucht’s Aufenthaltsqualität: Gastronomie, Grün, Geschäfte. Wie Stadtplanung in Siegen Menschen willkommen heißen will

Der Weg ist das Ziel und wenn der Weg die Innenstadt ist, dann ist das Ziel Aufenthaltsqualität. Die Zeiten, als Innenstädte dazu dienten, Geschäfte zu beherbergen – hin, einkaufen, weg – sind längst vorbei. Der Handel ist ein Grund unter vielen, sich im Zentrum die Zeit zu vertreiben. Der Kopenhagener Stadtplaner Jan Gehl, Vordenker einer Architektur zur Optimierung der Lebensqualität, sagt dazu: „Eine lebenswerte Stadt ist wie eine gute Party – man bleibt viel länger als nötig, weil man sich wohlfühlt.“

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Darauf reagieren Verwaltungen und Städtebau-Experten, auch in Siegen. Großprojekte wie die Neuen Ufer sind sichtbares Zeichen dieses Umdenkens. Und das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange.

Für gezielt gute Gastronomie in Siegen: Genuss gehört zur Lebensqualität

Verwaltungen machen sich heute Gedanken, welche Betriebe strategisch gut in die Stadt passen; welche Bausteine noch fehlen. Im Einzelhandel gibt es dazu seit Jahren seitenweise Analysen – Stichwort „zentrenrelevantes Sortiment“ –, inzwischen auch für den Gastro-Bereich. Denn Genuss, Essen und Trinken, spielen eine zentrale Rolle, wenn Menschen sich längere Zeit irgendwo aufhalten. Das ist nicht nur in der Siegener Innenstadt so, sonst gäbe es keine Einkehrmöglichkeiten an beliebten Freizeitzielen. Außengastronomie gab es in Siegen-Mitte bis vor ein paar Jahren im Grunde nur in der Alten Poststraße – und mit der Freilegung der Sieg und den Neuen Ufern war es, „als wären wir von der Bremse gegangen“, sagt Stadtbaurat Henrik Schumann.

Siegens Neue Ufer sind ein Beispiel für gelungene Freiraumgestaltung, was die Menschen gerne annehmen.
Siegens Neue Ufer sind ein Beispiel für gelungene Freiraumgestaltung, was die Menschen gerne annehmen. © Hendrik Schulz

Im Ruhrgebiet gibt es Trinkhallen, im Rheinland Spätis und in Siegen ist inzwischen der Kiosk unterhalb des Rathauses Oberstadt gerade an lauen Sommerabenden beliebt. Gastronomie schafft Möglichkeiten für die Menschen und bis zu einem gewissen Grad soziale Kontrolle. Wo am Abend noch geöffnet ist, entstehen nicht so schnell dunkle Angsträume. Gleichzeitig darf kein Konsumdruck entstehen: Essen und Trinken ist eine Option. Wer das nicht tut, darf genauso bleiben. An den Siegufern hat das bei den Rundbänken nicht immer funktioniert.

Schönheit und Attraktivität liegen im Auges des Betrachters, aber Städte können die Voraussetzungen schaffen, dass auf Flächen etwas geboten wird, dass sich alle Menschen wohlfühlen können. Dazu gehört die Gestaltung einer Fläche, die Möglichkeit, sich überhaupt zu treffen – und eben auch Gastronomie. „Ein Stück Lebensgefühl“, sagt der Stadtbaurat, der in Dortmund studiert hat, wo man sich nach der Uni in der Öffentlichkeit auf einen Kaffee traf. Oder Bier. Wo Menschen sich treffen um zu kommunizieren, ist das attraktiv für andere.

Siegener wollten gemütliche Fissmer-Anlage behalten – Menschen bestimmen Nutzung

Die Menschen wollen sich den öffentlichen Raum zu Eigen machen. Sich in Ruhe in der Sonne niederlassen und ein Buch lesen, quatschen, Skateboardfahren oder sonstwas. Möglichkeiten gibt es inzwischen in Siegen, aber da geht auch noch mehr. „Die letzten Prozente Attraktivität rausholen“, ist das Ziel der Stadtplaner, sagt Schumann. Und das ist durchaus eine Kunst, wenn es an die Details geht. Die Fissmer-Anlage zum Beispiel sollte vor einigen Jahren umgeplant werden: Hin zu einer größeren, luftigeren Fläche.

Die Fissmer-Anlage in der Siegener Oberstadt bietet viele kleine Nischen Rückzugsmöglichkeiten – aber sie ist nicht barrierefrei.
Die Fissmer-Anlage in der Siegener Oberstadt bietet viele kleine Nischen Rückzugsmöglichkeiten – aber sie ist nicht barrierefrei. © Hendrik Schulz

Es scheiterte am Widerstand der Menschen: Sie mögen ihre kleinen Nischen, die Rückzugsorte. Die nicht zu versteckt sein dürfen, sonst ist man schnell wieder bei Angsträumen. Wird das subjektive Sicherheitsgefühl verletzt, lässt sich kaum jemand unbeschwert nieder. Was das angeht, ist die Fissmer-Anlage nicht optimal. Und auch nicht bei der Barrierefreiheit: Ältere und in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen haben Probleme, den Bereich zu nutzen.

Der Schlossplatz ist ein anderes Beispiel: Es fehlen Möglichkeiten – der Hof zwischen Unterem Schloss und Hörsaal-Gebäude ist fast leer. Keine Möbel, keine Rückzugsorte, keine Kommunikations-Anreize. Nackter Stein auf dem Boden. „Wäre es Rasen, wäre es wohl voller“, vermutet Henrik Schumann und der Blick auf den Bertramsplatz an Sommertagen zeigt, dass das wohl stimmt. Der Schlossplatz gehört zwar dem Land, irgendeine Art von Möblierung will die Stadt aber realisieren, kündigt Schumann an. Pflanzen werden schonmal schwierig: Unten drunter ist das Karstadt-Parkhaus.

Damit öffentliche Flächen in Siegen nicht zu Angsträumen werden

Der Bürgerpark Herrengarten wird – zum größten Teil – ebenfalls eine Freifläche. Aber eine grüne. Mit Sitzelement drumherum. Kleiner insgesamt, abgetrennt zu den Passanten, aber nicht zu sehr. Mann kann für sich bleiben, verschwindet aber nicht. Man ist mitten im Geschehen und ihm doch ein wenig entzogen. Dazu soll es Bäume geben, von denen es im Siegener Zentrum viel zu wenige gibt, weil sie Schatten spenden; Kühle, Frische. Besser als es Sonnensegel oder -schirme könnten.

Die Freiräume am künftigen Teilcampus Nord (Friedrichstraße) der Uni Siegen so zu gestalten, dass sie  als öffentlich wahrgenommen werden aber nicht als Angstraum, ist nicht trivial.
Die Freiräume am künftigen Teilcampus Nord (Friedrichstraße) der Uni Siegen so zu gestalten, dass sie als öffentlich wahrgenommen werden aber nicht als Angstraum, ist nicht trivial. © Uni Siegen

Wo Beleuchtung ist, fühlt man sich auch nach Einbruch der Dunkelheit einigermaßen sicher. Am künftigen Herrengarten soll Licht eine wichtige Rolle spielen – und wohl auch am künftigen Teilcampus Nord entlang der Friedrichstraße. Dort sind eine Reihe halböffentlicher Plätze geplant; halböffentlich deshalb, weil die Gebäude Plätze zum Teil umschließen sollen. Diese Räume sollen Rückzugsmöglichkeit werden, ohne zum Angstraum zu verkommen. Und sie dürfen gleichzeitig nicht ausstrahlen, dass hier Betretungsverbot herrscht – hier kann und darf jeder sein. Gastronomie wäre dazu ein sichtbares Zeichen: Hier sind Menschen willkommen.

Stadtbaurat: Freigelegte Weiß wird attraktivster Bereich in Siegen

All das muss bedacht, abgewogen, ausbalanciert werden. Nicht alles ist im Voraus planbar: Manches ergibt sich, einfach weil die Menschen es so machen. Entlang des Häutebachwegs zum Beispiel, wo die Weiß freigelegt wird und Flussauen mit Wegen und Spielgeräten gestaltet werden. „Das wird wohl der attraktivste Bereich in Siegen“, glaubt Henrik Schumann, kein Zweifel: Hier werden sich Menschen aufhalten. Auch abends? Das muss sich zeigen, wenn es das Angebot gibt, die Stadt muss annehmen, was die Menschen damit machen, im Zweifel nachjustieren. „Man kann nicht alles planen“, sagt der Stadtbaurat.

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Auch nicht, wo genau Gastronomie wichtig werden könnte. Man muss im Zweifel halt nachsteuern. Auch insofern ist der Uni-Umzug eine Chance für Siegen: Weil die Hochschule ein öffentlicher Partner ist und der Öffentlichkeit verpflichtet. Sie will und muss sich nicht nur um ihre Studierenden, sondern auch um die Menschen kümmern, die schon da sind in der Stadt, in die sie umzieht.

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