Mülheim. Eine Statistik zeigt, wie die Lage an jeder einzelnen Mülheimer Schule bis 2020 war. Doch auch unter Corona ist Stundenausfall ein großes Thema.

Ersatzlos ausgefallener Schulunterricht ist ein Dauerärgernis. Wie groß das Problem zum Teil auch in Mülheim war und ist, zeigen jüngst veröffentlichte Daten des NRW-Schulministeriums. Als Reaktion auf eine Kleine Anfrage der SPD legte die Behörde von Ministerin Yvonne Gebauer (FDP) einen Katalog mit exakten Prozentangaben zum Unterrichtsausfall im Schuljahr 2018/19 sowie im ersten Halbjahr 2019/20 vor. Sie basiert auf einer flächendeckenden Erhebung. Negativer Spitzenreiter in Mülheim war danach zeitweise die Willy-Brandt-Schule. Hannelore Kraft, SPD-Landtagsabgeordnete aus Mülheim und ehemalige Ministerpräsidentin, fordert als Reaktion, die Schulen personell endlich besser auszustatten.

Im letzten kompletten Schuljahr vor der Corona-Pandemie fielen an der Styrumer Gesamtschule 10,5 Prozent der Stunden ersatzlos aus. „Es war ein Jahr mit mehreren Langzeiterkrankten“, erinnert sich Mathias Kocks, stellvertretender Schulleiter. Außerdem gab es dienstliche Versetzungen, für die erst im darauffolgenden Schuljahr Ersatz kam. Und sämtliche Lehrkräfte wurden 2018/19 umfangreich im digitalen Lernen fortgebildet. Auch wenn das zunächst weiteren Unterrichtsausfall bedeutete, habe es sich im Nachhinein „als Segen erwiesen“, so Kocks. Denn als die Pandemie im Frühjahr 2020 Einzug hielt, war man vorbereitet, kannte sich mit Teams und Moodle schon aus. „Der digitale Unterricht funktionierte.“

Die 10,5 Prozent wertet der Mülheimer Schulleiter Mathias Kocks als „Ausreißer“

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Die 10,5 Prozent Unterrichtsausfall wertet Kocks als „Ausreißer“. Das zeige sich schon daran, dass an der Willy-Brandt-Schule im ersten Halbjahr 19/20 nur noch 5,2 Prozent der Schulstunden ausgefallen sind. „Aktuell sind wir mit drei Stellen unterbesetzt und vier Kollegen fehlen coronabedingt.“ Ausfälle wegen Infektion, Krankheit, Quarantäne beschäftigen derzeit alle Kollegien in Mülheim. Aber auch Schwangerschaften können zum Problem werden. Lehrerinnen, die ein Kind erwarten, dürften wegen der Ansteckungsgefahr in Klassenzimmern nicht mehr eingesetzt werden. Eine Vertretung bekomme man trotzdem nur, wenn ein Arzt die Frau dienstunfähig schreibe.

Doch selbst in diesem Fall bleibe die Situation schwierig: „Der Lehrermarkt ist ja leer gefegt.“ Alle Schulleitungen klagen aktuell über dieses Problem, sagt Kocks. „Und so bleibt uns nichts anderes übrig, als Tag für Tag mit Personal und Stunden zu jonglieren, damit es weiterläuft.“

MdB Hannelore Kraft kritisiert: „Gesamtschulen sind häufiger betroffen als Gymnasien“

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Laut MdB Hannelore Kraft zeigen die neuen Zahlen, dass „die schwarz-gelbe Landesregierung mit dem Versprechen einer Unterrichtsgarantie gescheitert ist“. Auffällig sei, dass Gesamtschulen, aber auch Haupt- und Realschulen „häufig einen weitaus höheren Ausfall an Schulstunden zu beklagen haben als Gymnasien“. Auch Schulen in benachteiligten Vierteln seien öfter betroffen. Man brauche einen schulscharfen Sozialindex. „Dieser zeigt, wo Geld, Lehrkräfte und multiprofessionelle Teams am dringendsten gebraucht werden.“

Darüber hinaus sei ein gleiches Einstiegsgehalt für Lehrkräfte aller Schulformen sinnvoll. „Eine Grundschullehrerin verdient aktuell zum Berufseinstieg etwa 640 Euro weniger pro Monat als ihre Kollegin am Gymnasium. Das ist ungerecht und macht andere Schulformen im Vergleich zu Gymnasien unattraktiv“, sagt Kraft.

Reizgas-Vorfall legte Mülheims größte Schule am 2. Oktober 2019 lahm

Ausflüge, Fortbildungen, Krankheiten. . . Auch Thomas Ratz, Leiter der Gustav-Heinemann-Schule, weiß, wie eng es werden kann. „Doch in normalen Zeiten funktioniert unser Vertretungskonzept.“ Dann entfielen höchstens mal Randstunden. Ein hoher Krankenstand aber könne die Sache schnell ändern. Oder spezielle Ereignisse: So legte zum Beispiel ein Reizgas-Vorfall samt Großeinsatz von Feuerwehr und Polizei Mülheims größte Schule am 2. Oktober 2019 komplett lahm. In die Statistik ging daraufhin Unterrichtsausfall für alle 1600 Schüler gleichzeitig ein.

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An einem anderen Tag fielen Stunden aus, weil der Eichenprozessionsspinner aus umliegenden Bäumen entfernt werden musste. „Und dann mussten wir mehrfach Schüler nach Hause schicken, weil Sanierungsarbeiten anstanden und die Lamellen vor den Fenstern entfernt worden waren. Es wurde einfach zu heiß in den Klassenzimmern.“ All dies und vieles andere addierte sich zu einem großen Ganzen: Laut der Landesdaten ist an der Gustav-Heinemann-Schule im Schuljahr 18/19 insgesamt 7,8 Prozent des Unterrichts ausgefallen. Im ersten Halbjahr 19/20 waren es sogar 8,3 Prozent – das war unschöner Rekord stadtweit. Auch aktuell, im zweiten langen Corona-Winter, ist die Lage wieder „sehr angespannt“, klagt Thomas Ratz. „Wir springen ganz schön im Dreieck, um den Laden im Vollbetrieb aufrechtzuerhalten.“

An der Grundschule am Steigerweg fielen zeitweise fast acht Prozent der Stunden aus

Die Grundschule am Steigerweg fällt in der Statistik ebenfalls mit hohen Werten auf: Nach sechs Prozent Unterrichtsausfall in 2018/19 führte sie in 19/20 die Negativliste der Grundschulen mit 7,8 Prozent an. Leiterin Andrea Kocks berichtet aus der Zeit, in der man wöchentlich für die Verwaltung auflisten musste, wie viele Stunden entfallen sind und welche Gründe es dafür gab.

Um umfassend Infos über das Geschehen an den Schulen zu erhalten, hatte das Land 2018 das „Verfahren der flächendeckenden Unterrichtsausfallstatistik mit Detailerhebung“ eingeführt, heißt es in der Antwort der Regierung auf die Kleine Anfrage. In jeder Unterrichtswoche mussten die Schulen standardisiert Rückmeldung geben zu Abweichungen vom Stundenplan und einmal jährlich zwei Wochen lang tiefer analysieren. Mit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 wurde die Erhebung ausgesetzt. Auch vereinzelt noch ausstehende Schulmeldungen wurden nicht mehr eingefordert.

Die Erinnerung an die Zeit vor den turbulenten Corona-Jahren ist ein wenig verblasst

„Unterrichtsausfall ist mit allen Mitteln zu bekämpfen“

„Leider ist der Unterrichtsausfall immer noch eine der größten Herausforderungen für die Landesregierung“, schreibt das Schulministerium in seiner Antwort auf die Kleine Anfrage. „Unsere Schulen und ihr Personal leisten jeden Tag Enormes, um mit den vorhandenen personellen Ressourcen den Schulbetrieb am Laufen zu halten.“

Viele Einrichtungen aber litten unter „erheblichem Personalmangel“, der vielerorts zu Unterrichtsausfall führe. Insbesondere Schulen in sozialen Brennpunkten hätten damit zu kämpfen. Der Wegfall von Schulstunden verschärfe soziale Ungerechtigkeiten und sei schon von daher „mit allen Mitteln zu bekämpfen“.

Andrea Kocks vom Steigerweg hat immer geliefert. Doch die Erinnerung an die Zeit vor den turbulenten Corona-Jahren ist ein wenig verblasst. Sie wisse aber noch ziemlich genau, dass sie bei Schulamtsdirektorin Heike Freitag „laut um Hilfe geschrien“ habe. Ursächlich für den massiven Unterrichtsausfall sei „ein Minus von vier Stellen“ gewesen, bedingt durch Krankheit, Schwangerschaft und Ruhestand einer Kollegin. „Zum Glück stehen wir im Moment gut da, es fällt nur selten etwas aus. Wir können uns gegenseitig vertreten und sogar die maximale Stundenzahl erfüllen.“ Andrea Kocks freut sich: Für die coronagebeutelten Kinder sei Kontinuität extrem wichtig.

Grund zum Frohsinn hat auch Nicola Küppers. Während die Statistik für die meisten anderen Mülheimer Grundschulen Unterrichtsausfall im unteren einstelligen Prozentbereich ausweist, hat die Chefin der 2021 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Grundschule am Dichterviertel im ersten Halbjahr 19/20 tatsächlich eine 0,0 gemeldet. Das hat stadtweit niemand außer ihr geschafft. Und es ist ihr fast schon ein wenig unangenehm. Küppers spricht von einem „Glücksfall“, den es so nicht oft gebe, und davon, dass das schulinterne „ausgeklügelte“ Vertretungskonzept aufgegangen sei.

„Jedes Kind hat eine feste Partnerklasse, wo es im Notfall unkompliziert unterkommt“

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Meldet sich eine Kollegin, ein Kollege am Morgen krank, wissen die Jungen und Mädchen, wo sie hingehen müssen: „Jedes Kind hat eine feste Partnerklasse, wo es im Notfall unkompliziert unterkommt und weiterlernen kann.“ Vertretungskräfte profitierten von einem digitalen Stundenplan, in dem genau vermerkt werde, welches Thema gerade behandelt wird. „Dort trägt die Vertretung dann nach der Stunde auch ein, was bei ihr gemacht worden ist.“ So sei gewährleistet, dass die Kinder immer sinnvoll beschäftigt werden, nichts verloren geht. In allen Stundenplänen seien auch sogenannte Übungszeiten ausgewiesen; „die können auch weniger qualifizierte Kräfte wie Praktikanten übernehmen“, so Küppers.

Man sei an ihrer Schule nicht mehr festgelegt auf Jahrgangsstufen oder Klassen, eigentlich könne jede Lehrkraft jederzeit jedes Kind übernehmen. „Wir haben sinnvolle Rituale und Strukturen des immer gleichablaufenden, individualisierten, selbstgestalteten Lernens geschaffen.“ Das mache unabhängig. Und doch: „Auch bei uns wird’s eng, wenn mal drei Lehrer auf einen Schlag krank sind.“