Mülheim. . Ex-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft stattete dem Mülheimer WAZ-Leserbeirat einen mehr als zweistündigen Besuch ab. Eine Dokumentation.
Die ehemalige Ministerpräsidentin und Landtagsabgeordnete stattete dem Leserbeirat der Mülheimer WAZ-Redaktion einen mehr als zweistündigen Besuch ab. Eine Dokumentation.
Heinz Sprenger: Mich interessiert die menschliche Seite. Als Mülheimer Bürger hatte ich den Eindruck, dass Sie sich nach der verlorenen Landtagswahl zutiefst verletzt fühlten und in ein seelisches Loch gefallen sind. Insofern würde es mich freuen, wenn Sie jetzt mal ein Resümee ziehen und sagen würden, welchen Rat Sie denjenigen geben, die in Ihre Fußstapfen treten wollen.
Kraft: Da mir immer bewusst war, dass ich dieses Amt auf Zeit ausübe, bin ich in kein Loch gefallen. Außerdem ging es mir darum, mit einem klaren Schnitt aus der ersten Reihe zurückzutreten, damit die notwendige personelle und inhaltliche Erneuerung in der SPD möglichst schnell erfolgen kann. Mein Rückblick ist sehr positiv, weil ich viel bewegen konnte und mich dieses Amt vor allem durch die vielen tollen Begegnungen persönlich sehr bereichert hat.
Michael Klauß: Stellen Sie sich vor, Sie hätten freie Hand bei einer gedanklichen Neu-Orientierung dieser Stadt. Welche drei Dinge würden Sie ändern, ohne Rücksicht auf parteipolitisches Geplänkel und vorhandene Verwaltungsstrukturen?
Kraft: Ich bin in erster Linie Landespolitikerin und weiß um die sehr eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der kommunalpolitisch Verantwortlichen in Mülheim wegen der schwierigen Haushaltssituation. Das Land hat zu meiner Zeit Mülheim in den Stärkungspakt aufgenommen, aber wir brauchen dringend einen Altschuldenfond des Bundes, damit gute neue Ideen auch wirklich aufgegriffen werden können.
Marlies Pesch-Krebs: Ihr zentrales Projekt lautete „Kein Kind zurücklassen“. Als engagierte Lehrerin wie Schulleiterin habe ich über Jahrzehnte für Kinder und deren Familien gearbeitet, die die Politik übersehen und dadurch benachteiligt hat. Dies geschieht entgegen Ihren Äußerungen in der WAZ im Mai 2018 immer noch. Studien belegen, dass die Kinderarmut wie auch die ungleichen Bildungschancen weiter extrem zugenommen haben. Können Sie verstehen, dass ich, wie viele andere Bürger auch, darüber enttäuscht bin?
Kraft: ,Kein Kind zurücklassen‘ ist ein langfristiges Projekt. Möglichst schon vor der Geburt werden Kinder und Familien gezielt unterstützt und bis in die Ausbildung oder das Studium begleitet, wenn notwendig. Das bedeutet, dass sich die volle Wirkung erst in einigen Jahren zeigen wird. Die Kommunen, die das Projekt weiterführen, sind sehr erfolgreich, wie eine Evaluierung der Bertelsmann-Stiftung Mitte vergangenen Jahres belegt hat. ‚Kein Kind zurücklassen‘ ist daher auch kein Programm gegen Kinderarmut, die immer Ergebnis von Erwachsenenarmut ist. Maßnahmen, dies zu bekämpfen, sind unter anderen der Mindestlohn und der Soziale Arbeitsmarkt. Maßnahmen, die ich mit auf den Weg bringen durfte. Es fehlt aber noch eine Kindergrundsicherung, die von der CDU/CSU nicht mitgetragen wird.
Ursula Niebur: Wie sehen Sie Ihren Wirkungskreis im Landtag während des letzten Jahres als einfache Abgeordnete? Wo haben Sie sich besonders einbringen können?
Kraft: Ich bringe mich in meiner Fraktion bei allen wichtigen Themen ein. Beispiele sind unsere Forderung nach Abschaffung der Straßenausbaubeiträge, die Forderung nach kostenfreien Kitas – beides ohne zusätzliche Belastung der Kommunen – oder unsere Vorschläge für mehr bezahlbaren Wohnraum.
Eberhard Petermann: Halten Sie es für möglich, dass Ihr Verzicht auf die Kanzlerkandidatur – Sie standen zu der Zeit immerhin in hohem Ansehen – Ihre Partei in nicht unerheblichem Maße Wählerstimmen gekostet hat?
Kraft: Nein. Ich habe immer klar gesagt, dass ich Landespolitikerin bin und bleibe, nicht zuletzt, weil ich nur auf dieser Ebene viel für meine Herzensthemen Bildung und Kinder erreichen konnte. Und ich halte, was ich zusage.
Michael Klauß: Stellen Sie sich vor, Sie hätten freie Hand (ohne Schuldenlast) zur Investition in die Infrastruktur und zur Akquisition neuer Firmen. Welche drei Maßnahmen würden Sie sofort umsetzen?
Kraft: Kostenfreie Kitas und Schulen im optimalen Zustand, aufbauend auf dem Programm ‚Gute Schule 2020‘, mit dem von uns bereits zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt wurden. Und viel mehr Tempo bei der Digitalisierung.
Michael Klauß: Welche drei Dinge würden Sie den Mülheimern am liebsten zurufen – als Bürgerin, nicht als Ministerin a.D.?
Kraft: Bringt Euch weiter so aktiv ein, auch ehrenamtlich! Gestaltet die Zukunft auch politisch mit und nehmt nicht nur die Defizite, sondern auch die Vorzüge unserer Stadt intensiver wahr.
Ursula Niebur: Was haben Ihre Mülheimer Wähler konkret von Ihrem Mandat, das heißt: Was tun Sie in Düsseldorf für Mülheim?
Kraft: Ich vertrete die Interessen unserer Stadt und ihrer Bürginnen und Bürger im Landtag. Viele kontaktieren mich per Mail, Telefon oder in den Sprechstunden. Ein Beispiel war die Bitte Ihres Leserbeiratskollegen, ihm Türen zu öffnen und Kontakte zu ermöglichen zu seinem Herzensthema Kindesmissbrauch.
Eberhard Petermann: Sie stammen aus einer Mülheimer Arbeiterfamilie. Mit 33 Jahren traten Sie 1994 in die SPD ein. Verglichen mit Parteikarrieren der heutigen Zeit erfolgte dieser Beitritt erst spät. Trugen Sie sich in der Zeit davor mit dem Gedanken, sich politisch anders zu orientieren?
Kraft: Nein. Weil ich aus einer Arbeiterfamilie stamme und insbesondere die SPD-Bildungspolitik mir meinen Aufstieg ermöglichte, war die Richtung immer klar.
Marlies Pesch-Krebs: In einem Interview haben Sie gesagt, dass Sie gute Fortschritte in Styrum sehen. Ich sehe engagierte Menschen, die dort an Kitas und Schulen arbeiten, und ein Netzwerk, das seit Jahrzehnten bestens funktioniert. Es gibt gute Bauprojekte (die Sporthalle an der Augustastraße, der Ausbau der Grundschulen, der aber noch auf sich warten lässt, die Expansion von Aldi Süd). Aber nach wie vor ist hier die Benachteiligung der Kinder durch Armut wie mangelnde Chancengleichheit ganz besonders groß. Ganze Bevölkerungsgruppen werden durch Arbeitslosigkeit, Billigjobs, Leiharbeit und Altersarmut abgehängt. Welche Fortschritte meinten Sie?
Kraft: Ich meine etwa den Rückgang der Arbeitslosigkeit, den Sozialen Arbeitsmarkt, die Eindämmung von Leih- und Zeitarbeit, die rentenpolitischen Maßnahmen der vergangenen Jahre, unter anderem die Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente. An all diesen Stellen hätte ich mir mehr gewünscht, aber bei Koalitionsregierungen müssen immer beide Seiten Kompromisse eingehen.