Mülheim. Kein Alltag, kaum Kontakte: Die „Corona-Generation“ wird eingeschult – unter schwierigen Bedingungen. Wie kann Schule die Defizite auffangen?
Vor rund anderthalb Jahren drängte sich Corona in unser Leben. Anfangs war es für Kinder spannend, mal nicht zur Schule zu müssen, bald aber war da nur noch das Gefühl von Eingesperrtsein. Ihnen fehlten Kontakte und Anregungen, über Monate waren Kitas und Schulen dicht. Nun sind jene, die mancher bereits „Corona-Generation“ nennt, auf dem Sprung in die Grund- und weiterführenden Schulen. So ein Übergang ist schon in Nicht-Pandemiezeiten besonders – was aber bedeutet er für junge Menschen im Jahr 2021? Wie kann man sie unterstützen, auffangen? Darüber machen sich an Mülheims Kitas und Schulen viele Menschen Gedanken.
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Da ist zum Beispiel Alexandra Beelen, Leiterin des Familienzentrums „Die kleinen Strolche“ in Styrum, die die Jungen und Mädchen täglich erlebt und weiß, womit sie zu kämpfen haben: Gerade für die Vorschulkinder „war es keine einfache Zeit“, sagt Beelen. „Viele haben unter der Trennung der Gruppen gelitten und ihre Freunde sehr vermisst. Da gab es eine große Traurigkeit.“
Kinder lernen gutes Sozialverhalten vor allem untereinander in der Gruppe
Die wochenlange Isolation in den Lockdowns, das Hin und Her in der Notfallbetreuung und im eingeschränkten Regelbetrieb – dadurch entstanden bei vielen Kindern Defizite in der sozialen Entwicklung. Schließlich lernen sie gutes Sozialverhalten vor allem untereinander in der Gruppe. „Etwa, Konflikte zu lösen, sich verbal durchzusetzen oder mit anderen Kindern zu teilen – diese Lernerfahrungen sind weggebrochen“, weiß Beelen. Gleiches gilt für die Sprachentwicklung: Wenn über Wochen zuhause wenig (Deutsch) gesprochen wird, bleibt auch diese Kompetenz auf der Strecke.
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In ihrem letzten Jahr im Kindergarten arbeiten die Kinder zudem oft an einem Projekt zu einem Thema, wodurch sie Sachinteresse entwickeln und selbstständiger werden – wichtige Voraussetzung für das Lernen in der Schule. Dies konnte nur eingeschränkt stattfinden, genau wie kognitive Angebote, etwa Ausflüge zur Feuerwehr oder in die Bäckerei sowie die Übernachtung im Kindergarten. In normalen Zeiten sei zudem der Austausch zwischen Kita und Grundschulen im Stadtteil sehr intensiv, weiß Alexandra Beelen. „Denn uns ist allen wichtig, dass den Kindern ein guter Übergang geschaffen wird.“
Schuleingangsuntersuchungen kamen nur schleppend voran
Diese Gespräche fielen aus, genau wie der Austausch mit dem Gesundheitsamt, wo die Schuleingangsuntersuchungen nur schleppend vorankamen. „Dort war nie jemand zu erreichen, weil sie völlig überlastet waren.“ Das sei in der Ausnahmesituation verständlich, jedoch sehr zum Nachteil für Kinder, die ohnehin schon benachteiligt sind.
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Um zumindest einen kleinen Ausgleich zu schaffen, „haben wir den Eltern regelmäßig Päckchen mit Aufgaben und Angeboten an die Hand gegeben“. So sollten die Vorschulkinder auch zuhause sinnvoll beschäftigt sein. „Doch da kam leider nicht viel zurück“, bedauert Beelen. Ohnehin seien viele Familien in der Pandemie überfordert gewesen. „Bei uns leben viele auf beengtem Wohnraum mit mehreren Kindern unterschiedlicher Altersstufen – eine echte Belastung.“ Gerade dort, wo sich Eltern nicht kümmern können, sei bei Kindern vieles auf der Strecke geblieben.
„Die Lehrer werden alles tun, um die Kinder zu unterstützen“
Ob Grundschule diese Defizite auffangen kann? Schulrätin Heike Freitag ist guter Dinge: „Die Lehrer werden alles tun, um die Kinder zu unterstützen.“ Jeder hoffe, dass die Kleinen sich nach der Einschulung ganz bald wohl fühlen. „Nur dann können sie gut lernen.“ Freitag erwartet größere Unterschiede bei den Kindern als in früheren Jahren; „entscheidend ist, wie die Eltern sie in der Zeit ohne Kita gefördert haben“. Der Unterricht müsse sich stärker als sonst daran orientieren, was aufzuarbeiten ist: Wenn die deutsche Sprache nach vielen Monaten in der eigenen Familie deutlich mehr Schwierigkeiten bereitet als zuvor, stehe Deutsch-Förderung oben auf der Agenda. „Wenn auffällt, dass ein Schüler die Schere nicht halten kann, nehmen die Lehrkräfte die Feinmotorik in den Blick.“
Die Lehrer hätten zusätzliche Kompetenzen erworben, vor allem im Bereich Digitalisierung hätten sich „die allermeisten“ auf den Weg gemacht. Fortbildungen, Arbeitskreise, Webinare: Freitag zählt viele Möglichkeiten auf. Die Schulen hätten eng mit der Bildungsinitiative Ruhrfutur zusammengearbeitet.
In den Ferien von einer Art Nachhilfe durch Studenten profitieren
Auch Bund und Land haben erkannt, dass die „Generation Corona“ Hilfe braucht. Gelder wurden bereitgestellt, Förderprogramme angekündigt, zum Teil schon umgesetzt. In den Ferien findet das NRW-Programm „Extra-Zeit zum Lernen“ statt, die meisten Mülheimer Grundschulen und einige weiterführende Schulen machen mit – und mehrere hundert Kinder. Wer fürchtet, den Anschluss zu verlieren, kann in der freien Zeit von einer Art Nachhilfe durch Studenten profitieren. Das ist kein Angebot für künftige Erstklässler, na klar, für alle anderen Schüler aber schon: „Die Lernferien sind vor allem für die sinnvoll, die zu Hause keine Chance hatten“, so Freitag. „Sie können Stoff im persönlichen Kontakt stressfrei nachholen.“
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Von dem Konzept überzeugt ist unter anderem Birte Kellermann, Leiterin der Grundschule am Krähenbüschken. In den letzten drei Ferienwochen erhalten dort 60 Kinder die Chance, Verpasstes aufzuholen. Nach den harten Corona-Monaten müsse es vor allem darum gehen, sie „emotional abzuholen“. Lerninhalte seien wichtig, aber besonders auch das Sozial- und Arbeitsverhalten.
Realschule Mellinghofer Straße: Stundenzahl der Kernfächer ausgeweitet
Judith Koch, Leiterin der Realschule an der Mellinghofer Straße, steht groß angekündigten Förder-Projekten eher skeptisch gegenüber: Wenn ein solches Programm ende, sei oft längst noch nicht alles wieder gut. Für Koch ist „die Zeit, die wir uns für jedes einzelne Kind nehmen“, entscheidend. Wenn man sich auf ein Kind wirklich einlasse, es ernst nehme, „dann braucht es keine Extra-Programme“. In ihrer Schule habe man in den letzten anderthalb Jahren sehr darauf geachtet, den Kontakt zu den Schülern nie zu verlieren. Darum gehe es, „egal, ob mit oder ohne Corona“.
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Besondere Pläne fürs neue Schuljahr hat Koch trotzdem. In Deutsch, Mathe und Englisch haben die Fünftklässler wöchentlich fünf anstelle von vier Stunden Unterricht. Ein in der Coronazeit überarbeitetes, spielerisches Diagnoseverfahren soll aufdecken, wer Unterstützung braucht. Die Grundrechenarten sind Thema, es geht um Basiswissen und Kompetenzen wie das Lesen der Uhr. Auch die Fähigkeiten beim Basteln schauen sich die Lehrkräfte an, um Defizite aufzuarbeiten – etwa in jahrgangsübergreifenden Lernwerkstätten. Angst vor einer Prüfungssituation brauche keiner zu haben, betont Koch, „wir bauen keinen Druck auf“. Auch das Sozialverhalten der Corona-Kinder soll gestärkt werden. Im Fach „MindMatters“ gehe es um Fragen wie diese: „Wie finde ich Freunde?“
Deutsch- und Matheunterricht findet einmal wöchentlich mit zwei Lehrern statt
Dr. Heike Quednau, Leiterin der Luisenschule, hatte beim Kennenlernnachmittag schöne Begegnungen mit künftigen Fünftklässlern. „Wir haben ihnen signalisiert, dass wir uns auf sie freuen und wir das zusammen hinbekommen.“ Aus Gesprächen wisse sie, wie unterschiedlich die Grundschulen mit der Pandemie umgegangen sind. Online-Unterricht gehörte an manchen Einrichtungen zum Standardprogramm, an anderen war er ein Fremdwort. So sei es schwierig einzuschätzen, welche Kompetenzen die Jungen und Mädchen mitbringen und was vielleicht fehlt. „Es gab Kinder, die hatten fast gar keinen Kontakt zu ihren Lehrern“, weiß Quednau. Das bereite ihr große Sorgen.
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Das Gymnasium baut vor: Der Deutsch- und Matheunterricht findet einmal wöchentlich mit zwei Lehrern statt. So könne man die Kinder individuell fördern. Auch das „Schulwerk“, den Förderunterricht der Luisenschule, habe man wegen Corona ausgebaut. Dort wird Fünftklässlern geholfen, die in einem Hauptfach Schwierigkeiten haben. Mindestens einmal wöchentlich wird der Zusatzunterricht stattfinden – „den genauen Umfang können wir noch nicht absehen“. Man müsse zunächst „diagnostizieren“, wo die Probleme liegen. Auch das LRS-Training, also die Unterstützung von Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, werde man intensivieren und aufs Digitale ausweiten.
Schulleiterin: „Die Kinder sollen wieder zusammenwachsen können“
„Wir werden jedem Kind, das Förderung braucht, etwas anbieten“, verspricht die Schulleiterin. „Sie sollen zusammenwachsen können.“ Als vor einigen Wochen die Kinder endlich komplett an die Schule zurückkehrten, hat Quednau oft am Fenster gestanden und sich gefreut. „Die Fünftklässler haben es genossen, zusammen im Garten zu toben, endlich wieder mit ihren Freunden zusammen zu sein.“