Mülheim. . Im Mai 2017 erlebte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ihre herbe Wahlschlappe. Heute ist sie einfache Abgeordnete. Wir trafen sie im Café.
„Mir geht es gut“, sagt Hannelore Kraft, zeigt auf einem Ipad ihren jungen Labrador und erzählt, dass sie nun Zeit habe, öfter mit dem Hund spazieren zu gehen, dass sie Ecken in Mülheim entdecke, die sie vorher noch nicht kannte, dass sie sich nun daran erfreuen könne, wie der Ginster in ihrem Garten in Dümpten blüht. „Es ist ein anderes Leben geworden, ohne stets im Fokus zu stehen“, sagt sie. Sie schaue ohne jeden Groll zurück auf ihre sieben Jahre als Ministerpräsidentin, eine Lebensphase, die vor knapp einem Jahr mit der Wahlniederlage beendet wurden.
Vermisst sie etwas? „Mir war immer bewusst, dass in einer Demokratie ein Amt auf Zeit vergeben wird.“ Daher habe sie ihre Abwahl auch nicht aus der Bahn geworfen, nicht nach so vielen Jahren als Abgeordnete, als Ministerin, als Oppositionsführerin, als Ministerpräsidentin, die auch mit so dramatischen Ereignissen wie dem Germanwings-Absturz oder der Loveparade-Katastrophe konfrontiert wurde.
Kraft will weiterhin „Kümmerin“ vor Ort sein
Gut, sie könne nun nicht mehr so gestalten wie früher. Aber sie habe genug Arbeit. Sie sei in ihrem Wahlkreis mit den Mülheimer Ortsvereinen der SPD in Stadtteilen unterwegs, sei beratendes Mitglied im Unterbezirk, wirke im Landtag im Parlament und in der Fraktion mit, wenn auch nicht mehr in der ersten Reihe. Sie vertritt ihre Partei im Sportausschuss. Sie werde auch immer noch von vielen Leuten angeschrieben und aufgesucht. Nach wie vor kämen Menschen mit Sorgen und Nöten ganz individueller Art zu ihr. „Manche haben auch noch gar nicht mitbekommen, dass ich nicht mehr Ministerpräsidentin bin.“ Egal. Wo immer sie könne, helfe sie gerne. So sieht sie auch ihren Einsatz in der Loveparade-Stiftung.
Eine Art „Kümmerin“ vor Ort will sie weiterhin sein. „Politik funktioniert nicht vom Schreibtisch aus“, betont sie und hält den direkten Kontakt mit Betroffenen, wo auch immer, für entscheidend, wenn man als Politiker ernsthaft mitreden wolle. „Man lernt dabei viel.“ Sie schwärmt im Rückblick von vielen interessanten Menschen, oft auch einfachen Leuten, die sie bisher in ihrem Politikerleben habe kennenlernen dürfen.
Einladungen zu Talk-Shows lehnt sie ab
Sie sagt es nicht ausdrücklich, lässt aber durchblicken, dass politische Spitzenämter einem alles abverlangen – nahezu rund um die Uhr. Den ehrenamtlichen Politikern zollt sie hohen Respekt, erkennt, dass auch sie vor immer größeren inhaltlichen und zeitlichen Anforderungen stehen. Beruf, Familie und das Ehrenamt unter einen Hut zu bekommen, sieht auch sie alles andere als leicht an. „Der Ruf der Politik ist leider schlechter als das, was sie eigentlich leistet“, bedauert sie. Den häufigen Vorwurf, dass Politiker nicht nah genug bei den Menschen sind, teilt sie nicht pauschal und sagt: „Demokratie braucht auch Demokraten.“ Heißt: Mischt Euch ein, macht mit, geht hin!
Im Rückblick gibt es kein kritisches, kein böses Wort von ihr, erst Recht nicht über ihre Partei. Loyalität gegenüber denen, die jetzt am Ruder sind, ist ihr wichtig, gerade auch im Erneuerungsprozess. Berliner Vorgänge, die langen Koalitionsverhandlungen, den Absturz von Senkrechtstarter Martin Schulz – all das kommentiert sie nicht. Und Ratschläge aus der Ferne an die, die jetzt das Sagen haben, habe sie noch nie gut gefunden. Einladungen zu Talk-Shows erhält sie nach wie vor, nimmt sie aber nicht an.
Wechsel in die Bundespolitik war nie das Ziel
Hat sie es mal bereut, vor ein paar Jahren einen Gang in die Bundespolitik kategorisch abgelehnt zu haben? Klares Nein. Es sei ihr stets darum gegangen, Probleme im Land und in den Kommunen zu lösen. Ihr zentrales Projekt „Kein Kind zurückzulassen“ sieht sie als langfristiges und weiterhin auf einem guten Weg – auch bei der neuen Landesregierung. Man brauche hier einen langen Atem – wie bei der Integration.
Ein kompletter Wechsel in die Wirtschaft, wie es andere Politgrößen gemacht haben und tun, nachdem die Wähler sie aus der ersten Reihe genommen haben, ist für Hannelore Kraft kein Thema – zumindest derzeit nicht. „Ich bin Abgeordnete, habe einen Wahlkreis“, sagt sie und will den Weg anderer nicht bewerten.
Kraft wünscht sich mehr Unterstütung für die Industrie
Mit Blick auf die aktuelle Landespolitik sagt sie, dass sie sich mehr Unterstützung für die Industrie wünschte. Für den Erhalt der industriellen Arbeitsplätze passiert aus ihrer Sicht zu wenig. Richtig große Sorgen bereiten ihr aber die vielen bedrohlichen Konflikte und Krisenherde auf der Welt, das in Teilen zerstrittene Europa, die Rechten, die Zulauf haben. „In NRW hatten wir immer einen Spitzenplatz in politischer Weiterbildung.“ Sie fände es gut, wenn das eher noch intensiviert würde.
Eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre sieht sie in der Digitalisierung. Menschen und Unternehmen dabei zu begleiten, ist für sie entscheidend, um Chancen zu nutzen und Ängste zu nehmen. Ihre Landesregierung, sagt sie, sei die erste gewesen, die dieses Thema systematisch angepackt habe, was damals noch von vielen belächelt worden sei. Dieses Begleiten bei der anstehenden Digitalisierung ist für sie eine klassische Aufgabe für die SPD.
An der Promenade sitzen – einfach schön
Mit etwas Wehmut verfolgt sie das Auslaufen des Bergbaus im Land, spricht von einer Zäsur und von den Werten des Bergbaus, die die Region geprägt haben und bleiben sollten: miteinander auskommen, zusammenhalten, solidarisch sein.
Und Mülheim, ihre Heimatstadt? „Ich freue mich über die Verlängerung des Radweges Richtung Hochschule, sehe gute Fortschritte in Styrum und noch ein größeres Potenzial für die Entwicklung der Innenstadt.“ Und an der Promenade an der Ruhr zu sitzen, sei einfach schön.
Zeit und Ruhe dazu findet sie jetzt.
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Hannelore Kraft wurde 1961 in Mülheim geboren, wuchs in Dümpten auf und machte Abitur am Gymnasium Broich. Sie machte zunächst eine Ausbildung zur Bankkauffrau, bevor sie Wirtschaftswissenschaften studierte.
Abgeordnete des Landtags Nordrhein-Westfalen wurde die Mülheimerin im Jahr 2000. In den folgenden Jahren wurde sie Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten (2001-2002) sowie Ministerin für Wissenschaft und Forschung des Landes NRW (2005 bis 2010). Vorsitzende der SPD-Fraktion im NRW-Landtag war die Dümptenerin von 2005 bis 2010, von 2007 an war sie Landesvorsitzende der NRW-SPD und ab 2009 eine der sechs stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD. Von 2010 bis 2011 war sie Bundesratspräsidentin.
Als erste Frau und zehnte Person in diesem Amt war Hannelore Kraft von Juli 2010 bis Juni 2017 Ministerpräsidentin von NRW.