Wer hat Schuld, wenn ein neun Monate altes Baby stirbt - unterernährt und dehydriert? Kaum jemand, der auf diese Frage nicht zuerst antworten würde:

Wer hat Schuld, wenn ein neun Monate altes Baby stirbt - unterernährt und dehydriert? Kaum jemand, der auf diese Frage nicht zuerst antworten würde: die Eltern. Was aber, wenn die Familie zusätzlich vom Jugendamt und einer Diakonieeinrichtung betreut wird? Ändert sich dann die Schuldfrage? Tragen die Eltern deswegen weniger Schuld? Trägt die Betreuerin Mitschuld? Auch hier würden Außenstehende der Betreuerin wahrscheinlich schnell eine Mitschuld zusprechen. Ob das tatsächlich so ist, klären derzeit die Ermittlungsbehörden. Am Ende werden wohl Gerichte eine Antwort auf die Schuldfrage geben.

Kein eigenes Bild von der Situation gemacht Im Fall von Lara aus Wilhelmsburg geht es aber nicht nur um Schuld. Es geht in hohem Maße auch um Verantwortung. Und die wird in der politischen Diskussion gerade munter zwischen Fachbehörde, Bezirksamt und zuständigem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) hin- und hergeschoben.

Wie sich jetzt zeigt, ist die Verantwortung des ASD Wilhelmsburg größer als bisher bekannt (siehe neben stehenden Artikel). Trotz Kenntnis eines Gewichtsverlusts bei Lara schon im Dezember hat sich der zuständige Sozialarbeiter des ASD auf die telefonischen Aussagen von Laras Oma und Laras Betreuerin vom Rauhen Haus verlassen und sich nicht noch einmal ein eigenes Bild von der Situation gemacht.

Das ist auch ein Vorwurf, den die Sozialbehörde in ihrem "Expertenbericht zum Fall Lara R. " formuliert. Die "gemeldete Kindeswohlgefährdung" sei von dem fallzuständigen Mitarbeiter "nicht wie vorgesehen abgearbeitet" worden. Er habe das Kind nach der Meldung weder persönlich gesehen noch einem Arzt vorgestellt oder die Gefährdung des Säuglings eingeschätzt.

So steht es in dem Expertenbericht. Es gibt aber auch vieles, was nicht in diesem Bericht steht. Und das zeigt eine weitere Dimension des tragischen Todes von Lara. Längst ist der Fall auch zum Schlachtfeld des immer wieder aufkeimenden, politischen Kleinkrieges zwischen Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) und Mittes Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) geworden.

Und so fehlen die Stellungnahmen des Bezirksamtsleiters in der Bewertung des Falls und somit auch im Expertenbericht. Kein Wort von der "kollektiven Überlastungsanzeige" der Mitarbeiter des fallzuständigen ASD Wilhelmsburg. Kein Hinweis darauf, dass die Mitarbeiter wegen der angespannten personellen Situation darauf hingewiesen hatten, dass die Akten "nicht mehr in dem Maße fortgeführt werden können wie erforderlich, die Planung und Begleitung von Hilfeverläufen nicht mehr zu bewältigen, die Abteilungen nicht mehr handlungsfähig" sind. Stattdessen der Vorwurf, der zuständige ASD-Mitarbeiter habe den Fall nur nach Aktenlage verwaltet, ohne die Familie zu kennen. Die Information, dass Mutter und Kind ihn im Amt aufgesucht und kennengelernt haben, fehlt.

Enthalten ist auch der Vorwurf, der betreffende Mitarbeiter habe seinen Abteilungsleiter nicht mit in den Fall einbezogen. Was im Bericht fehlt, ist der Hinweis, dass dieser Abteilungsleiter zu dem Zeitpunkt erst seit zwei Monaten beim ASD Wilhelmsburg beschäftigt war, er vorher noch nie bei einem ASD gearbeitet hat und noch mitten in der Einarbeitung steckte.

Nicht genügend Mitarbeiter beim ASD vorhanden Wer den Expertenbericht der Behörde liest, bekommt den Eindruck vermittelt, die Verantwortung liege überall, nur nicht bei der Behörde. So betonte es Senator Wersich in dieser Woche auch noch einmal vor dem Familienausschuss der Bürgerschaft: Handlungsanweisungen und Dienstvorschriften seien in ausreichendem Maße vorhanden, um einen solchen Jugendhilfefall auch anders zu bewältigen.

Was im Bericht nicht erwähnt ist, ist die Tatsache, dass seit Jahren nicht genügend Mitarbeiter beim ASD in Wilhelmsburg vorhanden sind, um diese Handlungsanweisungen auch umzusetzen - oder genauer: lückenlos umzusetzen. Denn es gibt wohl Hunderte Fälle, in denen die Sozialarbeiter rechtzeitig das Richtige getan haben. Fälle, in denen die Kinder nicht zu Schaden gekommen sind oder sogar sterben mussten. Fälle, über die aber kein Mensch spricht.

Längst ist der Fall auch zum Schlachtfeld des politischen Kleinkrieges zwischen Wersich und Schreiber geworden.