Vorhalle. Der älteste Turm Hagens trägt ein letztes Geheimnis in sich. Recherchen in der Deutschen Nationalbibliothek lüften es.
Zigmal haben wir über diesen Turm geschrieben. Den ersten Hagener Gedenkturm, errichtet zu Ehren von Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein auf dem Kaisberg in Vorhalle. Wir schrieben auch so schmerzlich oft davon, dass dieses besondere Denkmal der Bedeutungslosigkeit übergeben ist. Aus den Augen, aus dem Sinn. Nie aber - und das zeigt die hervorgehobene Bedeutung dieses heute eher verwunschenen Ortes auf dem Berg in Vorhalle - schrieben wir über den 17. Oktober 1869. Den Tag der Einweihung. Ein Tag voller Prunk, Pathos und Berühmtheiten.
Der Turm steigt langsam empor
Die Sprache der Vorgänger unserer Zunft, den Schreibern des „Kreisblattes und öffentlichen Anzeigers für die Grafschaft Limburg“, war getragen, oft ein bisschen nah am Lobgesang. Bericht und Meinung oft nah beieinander. Die einstigen Kollegen schrieben jahrelang auf den 17. Oktober 1869 hin. Immer wieder veröffentlichten sie Zeilen über den Baufortschritt des Turmes im Neorennaissance-Stil.
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Im Oktober 1866 zum Beispiel: „Nach und nach ist das Denkmal, das Westfalen seinem großen Staatsmanne, dem edlen Stein vom Steine, auf dem Kaisberge widmen will, emporgestiegen. Dem Vernehmen nach wird er im nächsten Sommer, mit prächtigen Zinnen gekrönt, einen der Glanzpunkte des schönen Ruhrtales bilden.“
Harkort der prominenteste Gast
Klingt ein bisschen wie aus einer städtischen Werbebroschüre - war aber damals so. Der „Vater des Ruhrgebiets“, der Industrie- und Eisenbahn-Pionier Friedrich Harkort, der keine Meile von der Turmspitze entfernt seine Harkort’sche Maschinenfabrik auf Burg Wetter betrieb, war Initiator und Ideengeber des Turmes und Chef des Komitees, das einen Platz dafür suchte. Damit sind wir direkt im Heute. Denn Harkort und Mitstreiter empfanden die Kaisbergspitze als besten Ort in einem Gesamtensemble zwischen Burg Volmarstein, Burg und Freiheit Wetter und dem Vincketurm auf der Syburg. Jene Landmarken-Wirkung, die Harkort sah, ist heute völlig verpufft.
Heute ein unvergessenes Bauwerk
Zwar ist der Turm weithin sichtbar von Herdecke, Wetter, der A1, aus Boele und Boelerheide. Aber: Er ist infrastrukturell völlig vergessen. Während die Vorhaller vor zig Jahrzehnten hier zu einer Gaststätte pilgerten und nach Käsekuchen und Tanz hinauf auf den Turm stiegen, um das pittoreske Ruhrtal zu bestaunen, handelt es sich nun um einen singulären, verrammelten und unbesuchten Turm im Schatten der Brockhauser Wohnsiedlung. Wunderschön ist er, wenn man vor ihm steht, vergessen ist er aber von der Öffentlichkeit.
Ein prächtiger Festzug
Zeitreise: Vor 155 Jahren herrscht sonntags, am 17. Oktober 1869, zunächst schlechtes Wetter über dem Bahnhof Herdecke, der heute Bahnhof Vorhalle heißt. Aus allen benachbarten Städten der Grafschaft Mark - ein Gebiet zwischen Essen und Soest und Hamm und Gummersbach - sowie allen benachbarten rheinischen Städten waren Gäste am Bahnhof. Noch auf dem Bahnsteig bildet sich ein Festzug. Turnvereine mit ihren Fahnen führen ihn an, Musik wird gespielt, hinten läuft das Komitee um den wohl prominentesten Menschen hier: Friedrich Harkort.
Hunderte Interessierte sind dabei
Hunderte Interessierte gesellen sich dazu. Die Gruppe setzt sich in Bewegung. In etwa über die heutige Brüninghausstraße hinauf zum Turm, wo sie sich auf dem Plateau alle formieren. Kanonenschläge wummern ihren Schall in die Lüfte. Die Menschen blicken den 70 Fuß hohen und fertigen Turm hinauf, unter dessen Aussichtsempore die Schrifttafel prangt: „Des Guten Grundstein. Des Bösen Eckstein. Des deutschen Volkes Edelstein. Das dankbare Bürgerthum.“ Dazu die Geburts- und Sterbedaten des Freiherrn vom und zum Stein.
Der Freiherr prägte die Region
Genau in diesem Moment geht der Himmel auf. Die Sonne vertreibt das Wolkengrau und strahlt auf den Kaisberg, so schreibt es der alte Kreisanzeiger, dessen Ausgaben im Portal der Deutschen Digitalen Bibliothek zu finden sind. Friedrich Harkort tritt hervor und hält eine Ansprache. Eine Eloge auf den Freiherrn vom und zum Stein, der heute als preußischer Staatsmann und Reformer retrospektiv betrachtet wird. Von den ersten praktischen Erfahrungen im frühen Ruhrbergbau in Wetter und in der Verwaltung der westlichen preußischen Provinzen steigt er bis zum preußischen Minister für Wirtschaft und Finanzen in Berlin auf. Geistiger Feind der Franzosen, der vielen Ideen von deren Revolution trotzdem zugetan war. Nach seinem Tod vereinnahmten zahlreiche politische Lager, später auch die DDR, sein Vermächtnis für sich als deutscher Staatsmann.
Ein Lied erhellt die Szenerie
Dazu passt, dass an jenem Sonntag 1869 nach Harkorts Rede am Turm das Lied „Was ist des Deutschen Vaterland“ angestimmt wird. Der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt hatte das Gedicht 1813 in Königsberg verfasst, als er im Auftrag des Freiherrn vom Stein für eine Erhebung der Ostpreußen gegen Napoleon mobil machte. Arndt und vom Stein waren mit der russischen Armee im Januar 1813 aus St. Petersburg nach Königsberg gekommen. Nach dem Lied erhielt der Kaufmann und Dichter Emil Ritterhaus - der Schreiber des „Westfalenliedes“ - aus Wuppertal das Wort.
Lobpreisungen des Freiherrn
In einem langen Gedicht lobpreiste er förmlich das Wirken Steins und stellte es in den Kontext des Vorabends der Völkerschlacht von Leipzig, der der 17. Oktober wirklich ist. Stein wird in den Zeilen förmlich als jener Mann beschrieben, zu dem die preußischen Kämpfer empor blickten. In kompletter Stille lauschten die Zuhörer dem Dichter vor dem Turm. Wie „Donnerhall“ haben sie applaudiert, als Ritterhaus diese letzten Zeilen sprach: „Mit Jubel von des Berges Kron‘ klingt‘s ins Land hinein: Hoch lebe Deutschlands großer Sohn, ein dreifach hoch für Stein.“
Die Sommerserie „Schätze am Wegesrand“
In der großen Sommerserie der Hagener Stadtredaktion erzählen wir die Geschichten von außergewöhnlichen Häusern und Landmarken: Viele haben sie vielleicht schon einmal am Wegesrand entdeckt, wissen aber nicht, was sich dahinter verbirgt. Folgende Teile sind bereits erschienen:
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Auch der Dichter Fritz Reuter war da. Er sprach nach Ritterhaus - auf Plattdeutsch. Die Zuhörer lachten angesichts vieler politischer Pointen. Im Anschluss war Aufbruch angesagt. Und zwar Richtung Zweibrücker Hof in Herdecke. Dort wurde getrunken und gegessen, bis der „Pfiff der Lokomotive“ am Herdecker (Vorhaller) Bahnhof ertönte und die Gäste wieder in ihre Landstriche fuhren. Am Turm sollen bis in die späten Abendstunden bengalische Feuer gebrannt haben.
Den Turm umweht auch heute noch die Mystik jener Zeit, in die heutigen Landstriche Vorhalle, Herdecke, Wetter und Volmarstein nicht nur ein Ort waren, an dem Vordenker und Pioniere lebten, sondern auch Industriegeschichte mitgeschrieben wurde. Vorhalle würdigt den Freiherrn vom Stein überdies mit einer Grundschule im Ortskern. Am alten Wetteraner Rathaus ist ebenfalls eine Büste von ihm zu sehen.