Herne. Vor 25 Jahren hatte Herne große Träume: Ein XXL-Entertainment-Center sollte Besucher und Jobs in die Stadt ziehen. Heraus kam eine riesige Ruine.

Die Stadt Herne hat auf Hunderte neue Jobs gesetzt und sich einen großen Imagegewinn erhofft, Kritiker dagegen sprachen von Größenwahn und einer Planungsleiche: Vor 25 Jahren starteten die Planungen für ein XXL-Entertainment-Center an der A 43. Zehn Jahre später, im Mai vor 15 Jahren, war alles vorbei. Als Bagger eine ungenutzte Bauruine abrissen, war eine Millionensumme in den Sand gesetzt und im Rathaus viel Porzellan zerschlagen worden.

Was tun mit der Brache am Regenkamp in Herne-Süd? Die Stadtspitze um den damaligen Oberbürgermeister Wolfgang Becker (SPD) will in den 1990er-Jahren Arbeitsplätze holen, und da kommen die Pläne von Tudor House Investment (THI) gerade recht. Für bis zu 100 Millionen Mark will die Deutschland-Tochter des britischen Unternehmens auf der sieben Hektar großen Fläche ein Entertainment-Center aus dem Boden stampfen.

Herne: Multiplex-Kino mit bis zu 13 Sälen, Disco, Brauhaus und Bowlingbahn

So sollte es aussehen, das XXL-Entertainment-Center in Herne.
So sollte es aussehen, das XXL-Entertainment-Center in Herne. © OH

https://funkeprodprev2.blob.core.windows.net/preview/2021/05-20/57/00/file7fv84onzdit4w9uw3pv.jpgAuf 15.000 Quadratmetern Nutzfläche, so die Versprechungen, wollen die Investoren bis Ende 2000 einen gigantischen Komplex bauen. Dazu gehören ein Multiplex-Kino mit bis zu 13 Sälen für über 3500 Menschen, außerdem soll eine Großraumdisco entstehen, Brauhaus, Restaurants, Bowlingbahn, Sport- und Live-Musik-Bar, Spielsalon, Hotel sowie ein Saal für Konferenzen und Tagungen. „Unterhaltung bis zum Abwinken“ kündigt ein potenzieller Mieter an, ein Unternehmer aus der Schweiz. „Sie werden sich wie in Las Vegas fühlen“, verspricht er den Bürgern. Die Pläne kommen im Rathaus und bei der Wirtschaftsförderungsgesellschaft (WFG) gut an. 500 Arbeitsplätze in Voll- und Teilzeit stellt der Investor THI in Aussicht. Wer kann dazu schon Nein sagen?

Nein sagen in erster Linie die Bürgerinitiative Regenkamp und die Grünen. Die BI zweifelt an der Solvenz der THI, sieht Ungereimtheiten im Planverfahren und glaubt nicht an Mieter. Die Grünen wollen auf dem Gelände einen ökologischen Gewerbe- und Energiepark. Der bringe ebenfalls Arbeitsplätze, und zwar sichere und verträgliche. Die Grünen stimmen im Rat als einzige gegen die Änderung des Flächennutzungsplans, Peter Hugo Dürdoth befürchtet, dass am Regenkamp eines Tages Bauruinen stehen.

Bauunternehmen ging im guten Glauben in Vorleistung

Vergeblich. Die Stadtspitze peitscht das Projekt durch, hat SPD und CDU an ihrer Seite. Und sie sieht sich bestätigt: Der Investor stellt seinen Bauantrag, im September 1999 rollen die Bagger. Glen J. Day, der THI-Projektentwickler, kündigt im April 2000 an: Ende Juni, nach Abschluss der Rohbauarbeiten, feiert Herne Richtfest – und noch vor Weihnachten läuft im Multiplex-Kino der erste Film über die Leinwand.

Von wegen: Nur einen Monat gehen die Lichter aus. Die THI ist pleite, die Bauarbeiten stoppen. Nun kommt häppchenweise heraus: Die Stadt hat von dem vereinbarten Kaufpreis in Höhe von rund 5 Millionen Mark keinen Pfennig gesehen, der Investor hat keine Verträge mit Mietern geschlossen. Und das Bauunternehmen Müller-Altvatter ist guten Glaubens in Vorleistung gegangen und hat schon 22 Millionen Mark verbaut.

Was tun? Wayss & Freitag, Schwesterunternehmen von Müller-Altvatter, springt in die Bresche. Es kauft das Gelände von der Stadt und übernimmt das Projekt. Das neue Zauberwort heißt „Triforum“ – und das ähnelt nur noch in Grundzügen dem Entertainment-Center. Nun soll aus den Ruinen ein Einzelhandelszentrum auferstehen, mit Bürogebäude, Bürofach-, Elektronik- und Lampen-Markt, kleineren Geschäften und nur noch einem kleinen Entertainment-Bereich.

Auch das Triform auf dem Gelände scheitert

Begeisterung sieht anders aus. Einzelhandelsverband sowie Industrie- und Handelskammer lehnen das Projekt ab, sie fürchten den Tod der beiden Innenstädte. Auch in der Politik schwindet der Rückhalt, nur die Stadtspitze hofft weiter aufs Triforum. Vergeblich: Auch der neue Investor findet keine Mieter, Alternativen wie ein Outlet-Center oder ein Autohof machen die Runde. Dann gibt Wayss & Freitag auf.

Wie ein Mahnmal steht seither über Jahre, gut sichtbar an der A 43, ein halb fertiges Entertainment-Center, das immer mehr verwittert. Es wird überregional bekannt: Die Tageszeitung „Die Welt“ schreibt: „In Herne steht die größte Bauruine in NRW.“ Nahe der Anschlussstelle Herne-Eickel sei er zu sehen, „der zurzeit größte und mutmaßlich hässlichste Rohbau Nordrhein-Westfalens“.

Aus und vorbei: Die Ruine wird abgerissen.
Aus und vorbei: Die Ruine wird abgerissen. © WAZ | Ute

Die Stadt, die das Projekt förderte und für ihr Handeln zum Teil heftig kritisiert wurde, ist sich keiner Schuld bewusst. Ein Bericht des Rechnungsprüfungsamtes zur Projektabwicklung gibt ihr Recht. Er räume Fehler ein, zeige aber auch, dass die beteiligten Stellen der Verwaltung insgesamt gute Arbeit geleistet hätten, berichtet Heinz-Jürgen Steinbach, Sprecher der SPD im Rechnungsprüfungsausschuss. Er sagt: Das Scheitern des Projekts habe durch die Verwaltung nicht verhindert werden können. Auch OB Wolfgang Becker und SPD-Fraktionschef Horst Schiereck, der spätere Nachfolger, sehen keine Verfehlungen. Sie räumen ein, „dass durch die Pleite ein erheblicher Imageschaden entstanden ist“, finanzielle Verluste habe es aber nicht gegeben: „Nicht einen Cent“ habe die Stadt verloren.

Bürgerinitiative: Stadt verzichtete auf Eintreibung der Sicherheitsleistung

Die Bürgerinitiative Regenkamp zieht eine andere Bilanz. „Der Investor Stuart Reid mit seiner Ein-Mann-Briefkastenfirma mit Sitz in Berlin hat alle Beteiligten kontinuierlich belogen“, sagt Günter Mydlak, einer der Mitglieder, in der Rückschau zur WAZ. Reid habe nie einen Vertrag mit Mietern gehabt, geschweige denn eine gesicherte Finanzierung oder überhaupt eine Bürgschaft im Rathaus hinterlegt. „Und die Stadt Herne hat nie ernsthaft geprüft, ob THI finanziell überhaupt in der Lage ist, das Projekt zu stemmen“, kritisiert er. Er fragt: „Wie dumm oder verstockt muss man sein, sich einem solch windigen Trickser zu Füßen zu legen?“

Mydlak kritisiert vor allem die damalige Stadtspitze. Die Baugenehmigung für das Entertainment-Center habe beinhaltet, dass der Investor vor Baubeginn 5 Millionen Mark als Sicherheitsleistung zu hinterlegen hatte, damit Handwerksfirmen im Falle einer Insolvenz des Bauherrn nicht leer ausgehen: „Oberbürgermeister Wolfgang Becker und Stadtbaurat Jan Terhoeven verzichteten auf die Eintreibung dieser Sicherheitsleistung – mit katastrophalen Folgen.“

Am Ende kommt die Stadt mit einem blauen Auge davon. Die Stadtwerke Herne kaufen das Gelände, Wayss & Freitag verpflichtet sich, den Rohbau abzureißen. Und mit dem Möbelriesen Zurbrüggen findet sich dann doch ein Unternehmen, das auf der Brache baut und Jobs mitbringt. Das Einrichtungshaus öffnet Anfang 2012.

Eine Chronik: Wie es zum Scheitern des Bauprojekts kam

Die WAZ hat eine Chronik des so genannten Regenkamp-Projekts zusammengestellt. Hier der Ablauf der Ereignisse.

September 1996: Oberbürgermeister Wolfgang Becker (SPD) und Karl-Heinz Adams, Chef der Wirtschaftsförderungsgesellschaft (WFG), bestätigen, dass sich ein englischer Investor für die Brache am Regenkamp interessiert. Die Rede ist von einem Kino- und Freizeitzentrum mit 400 Arbeitsplätzen.

Ende 1996/Anfang 1997: Anwohner des Regenkamps gründen eine Bürgerinitiative (BI), bezweifeln die Solvenz des Investors Tudor House Investment (THI) und legen Widersprüche gegen den Bauvorbescheid ein.

September 1997: Der Rat stellt die Weichen für den Bau.

Januar 1998: Stadt und THI unterzeichnen den Durchführungsvertrag zum Vorhaben- und Erschließungsplan. Die Stadt verkauft das Grundstück für etwa 6 Millionen DM an THI, der Investor zahlt aber nicht.

April 1998: Das Oberverwaltungsgericht Münster lehnt den BI-Antrag ab, den mit einem Bebauungsplan vergleichbaren Vorhaben- und Erschließungsplan für nichtig zu erklären.

Mai 1998: THI erhält eine Teil-Baugenehmigung und kündigt die Eröffnung des Entertainment-Centers für Ende 1999 an.

Juli 1998: THI verschiebt den Beginn der Bauarbeiten.

März 1999: Es wird bekannt, dass mit der Lichtburg in Herne-Mitte Ende Dezember das letzte Kino schließt. Das Multiplexkino am Regenkamp soll die Lücke nahtlos füllen.

April 1999: THI übergibt den Bauantrag. Als Mieter stellt er vor: Hoyts Cinemas, McDonald’s und die Hotel-Kette Holiday-Inn.

August 1999: THI stellt die Galaxy AG als Betreiber des gastronomischen Bereichs vor. BI-Vertreter zeigen sich entsetzt: Sie nehmen Akteneinsicht im Bauordnungsamt und sprechen anschließend von einer Planungsleiche.

Dezember 1999: Spatenstich für das Entertainment-Center.

So sieht das Gelände heute aus der Vogelperspektive aus: Am Regenkamp hat Zurbrüggen 2012 ein Möbelzentrum geöffnet. Rechts daneben entsteht ein neuen Mömaxx-Möbelhaus.
So sieht das Gelände heute aus der Vogelperspektive aus: Am Regenkamp hat Zurbrüggen 2012 ein Möbelzentrum geöffnet. Rechts daneben entsteht ein neuen Mömaxx-Möbelhaus. © www.blossey.eu | Hans Blossey

März 2000: Die Stadt meldet, dass die Gebühr für die Baugenehmigung von THI überwiesen sei.

Mai 2000: Baustopp – THI stellt Insolvenzantrag.

Oktober 2000: Das Bauunternehmen Wayss & Freitag kauft das Grundstück für 4,5 Millionen DM und tritt selbst als Projektentwickler auf.

Dezember 2000: McDonald’s kommt wie geplant und eröffnet sein Drive in.

Januar 2001: Kinobetreiber Cinemark und die Galaxy AG springen als Mieter ab.

April 2001: Wayss & Freitag plant jetzt ein „Triforum“ – ein Fachmarkt-Zentrum, einen Entertainment-Bereich und ein Bürogebäude – ohne Kino.

November 2001: Stadt spricht vom Scheitern auch des Triforums.

Januar 2002: Geplantes Hotel öffnet – nun aber unter der Flagge von B & B-Hotel.

November 2005: Wayss & Freitag zieht einen Schlussstrich und verkauft das Regenkamp-Grundstück für unter 2,7 Millionen Euro an die Stadtwerke Herne.

April/Mai 2006: Wayss & Freitag reißt die Bauruine ab.

Mai 2008: Das Unternehmen Zurbrüggen entscheidet sich für den Bau eines Wohn- und Einrichtungshauses auf dem Regenkamp-Gelände. Später kauft das Unternehmen das Grundstück von der Stadtwerken, Eröffnung ist Anfang 2012.

Die weiteren Teile der WAZ-Serie „Herne historisch“