Herne. . Vor 85 Jahren wurde Margarete Henkel geboren. Als 100.000. Einwohnerin machte sie Herne zur Großstadt. Im Leben war sie aber kein Glückskind.

Eine Stadt ist dann eine Großstadt, wenn sie mindestens 100.000 Einwohner hat. Vor 85 Jahren war es ein Neugeborenes, das Herne zur Großstadt machte – Margarete Henkel. Das Mädchen wurde bei seiner Geburt als „Großstadtmacherin“ gefeiert, später geriet sie in Vergessenheit.

Henkel, Tochter eines Grubenelektrikers und einer Schneidermeistertochter von der Amalienstraße in Herne-Mitte, wurde am 14. März 1933 geboren, erzählt Stadtarchivar Jürgen Hagen. „Die Herner Zeitungen gaben Extraausgaben heraus, und das Radio brachte ein Interview mit den Großstadteltern“, so das Mitglied der Herner Geschichtsgruppe „Die Vier!“.

Ein Sparbuch als Geschenk zur Geburt

Stadtarchivar Jürgen Hagen
Stadtarchivar Jürgen Hagen © Sabrina Didschuneit

Von der Stadt habe das „historische Baby“ ein Sparbuch mit 100 Mark erhalten, auszahlbar ab dem 21. Geburtstag. Mehr aber sei von den Stadtvertretern nicht gekommen: Die Tochter eines überzeugten Demokraten, sagt Hagen, habe nicht ins Weltbild „der neuen braunen Machthaber“ gepasst.

Die Düsseldorfer Henkel-Werke hätten sich dagegen wegen der Namensgleichheit zur berühmten Herne-Tochter nicht lumpen lassen. So hätten die Henkels von dem Unternehmen etwa Persil, Sekt und Essbestecke zur Geburt des „Großstadtkindes“ erhalten.

Wenige Tage nach der Geburt sei es mit dem Großstadtglanz aber schon wieder vorbei gewesen. Durch eine damals übliche Frühjahrsabwanderung von Saisonarbeitern aufs Land seien Ende des Monats nur noch 99.993 Einwohner gemeldet gewesen. Erst 1947 sei Herne wieder zu Großstadtehren gelangt.

1933 wurde Margarete Henkel geboren, mit im Bild ist ihre Mutter Johanna Henkel, geb. Katzenich. Das Bild ist aus der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung.
1933 wurde Margarete Henkel geboren, mit im Bild ist ihre Mutter Johanna Henkel, geb. Katzenich. Das Bild ist aus der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung. © Stadtarchiv

Und Margarete Henkel? Sie sei „kein Glückskind“ gewesen, hat der Stadtarchivar recherchiert: „In ihrer Kindheit war sie häufig krank, während des Zweiten Weltkrieges wurde sie nach Pommern evakuiert.“ Und: „Die Eltern verloren durch Bombenangriffe zwei geerbte Häuser auf der Bochumer Straße.“ Nach dem Krieg und dem Besuch der Volksschule habe sie einige Zeit in einer Kinderheilstätte im Münsterland verbracht, wo sie auch als Haushaltshilfe tätig gewesen sei – eine Arbeit, die sie später weiter ausgeübt habe.

Stadt hat „guten Willen“ anerkannt

Kurz vor ihrem 21. Geburtstag habe sich die „Hunderttausendste“ 1954 bei der Stadt gemeldet und sich mit einem Brief an den damaligen Oberbürgermeister Robert Brauner in Erinnerung gerufen. „Durch meine Geburt wurde Herne Groß-Stadt“, schrieb Margarete Henkel da in Schreibschrift. Und: „Am 14. März feiere ich nun meinen 21. Geburtstag und ich habe den stillen Wunsch, daß die Stadtväter von Herne an ihre 100.000. Bürgerin des Jahres 1933 denken werden.“

Diesen Brief schrieb Margarete Henkel an OB Robert Brauner kurz vor ihrem 21. Geburtstag.
Diesen Brief schrieb Margarete Henkel an OB Robert Brauner kurz vor ihrem 21. Geburtstag. © Stadtarchiv

Brauner, so Stadtarchivar Hagen, habe sich nicht bitten lassen. Der OB habe Henkel zum Gespräch geladen, ihr zur Volljährigkeit gratuliert und ihr per Post mitgeteilt, „dass ich Ihr Sparguthaben bei der Sparkasse der Stadt Herne vom 14.3.1933, welches mit 15,00 DM nach der Abwertung noch zu verbuchen steht, mit 100,00 DM aufgefrischt habe“. Brauner fügte an: „Es stehen damit 115,00 DM auf diesem Konto als Guthaben, über das Sie verfügen können. Ich weiss allerdings nicht, ob das ihrem „stillen Wunsche“ entspricht, hoffe aber, dass Sie darin unseren guten Willen anerkennen“. Den hätten auch Rat und Verwaltung anerkannt, indem sie der „Großstadtmacherin“ eine Urkunde, unterschrieben von Oberbürgermeister Brauner, überreicht hätten.

Dann freilich sei Margarete Henkel, ledig bis ins Alter, weitgehend in Vergessenheit geraten. Mit 70 Jahren sei sie zwischen dem 31. Mai und 1. Juni 2003 in Herne gestorben.

WAZ-Leser erinnern sich an Henkel

Zahlreiche Leser haben sich auf das Fotorätsel der WAZ in der WAZ-Redaktion gemeldet und wussten, um wen es sich bei dem „historischen Baby“ handelt. Irmgard Gorke (85), die heute in Börnig lebt, ist mit Margarete Henkel zur Schule gegangen. „Wir gehörten zum Entlassjahrgang 1948 der Katholischen Volksschule an der Overwegstraße, eine sehr große Klasse waren wir damals.“ Dass durch ihre Mitschülerin Herne 1933 zur Großstadt wurde, „habe ich erst viel später erfahren“. Irmgard Gorke kam 1946 nach Herne, war mit der Familie am Ende des Zweiten Weltkrieges aus Ostpreußen geflüchtet und fand im Ruhrgebiet ein neues Zuhause.

Ein weiterer Leser hat rund 25 Jahre in der Nachbarschaft von Margarete Henkel gelebt und kann sich gut an sie erinnern. Die Bedeutung, die die Gesuchte für Herne hat, sei ihm seit seinen Kindheitstagen bekannt, meinte der Senior. „Das war häufiger mal ein Thema.“

Angie Balke, gebürtige Hernerin, lebt heute im Dortmunder Stadtteil Lütgendortmund und weiß von ihrem Opa, „wer damals der 100.000. Einwohner der Stadt war“, erzählte sie der Redaktion. Ihr Großvater habe gern aus der Geschichte Hernes berichtet, so die 64-Jährige und ergänzt: „Er wusste auch sehr viel zu berichten und kannte sich gut aus.“ Die WAZ-Ausgabe mit dem Fotorätsel habe sie beim Besuch von Verwandten gelesen und „da ich mir sicher war, die richtige Lösung zu kennen“, griff sie zum Telefon.

Brigitte Fern (55) kam zwar in Bochum zur Welt, aber hat durchaus Interesse an der Vergangenheit von Herne. Hier - oder genauer gesagt im Stadtteil Horsthausen - lebt sie seit inzwischen 15 Jahren. Im Internet sei sie auf den Namen der inzwischen verstorbenen Hernerin gestoßen, meinte sie während des Telefonats.