Freudenberg. Zwei Mädchen töten die 12-Jährige Luise, fassungslos blickt das ganze Land nach Freudenberg. Vier Monate ist das her. Wie ist die Lage heute?

So viel hat sich verändert an diesem einen Wochenende, in diesen wenigen Stunden. Am 12. März wurde die Leiche der seit dem Vorabend vermissten Luise in einem Wald bei Hohenhain gefunden. Die 12-Jährige war Opfer eines Tötungsdelikts geworden. Schon da war klar, dass der Fall die Menschen in Freudenberg und weit darüber hinaus erschüttern und lange beschäftigen würde. Doch als zwei Tage später feststand, dass die Täterinnen zwei etwa gleichaltrige Mädchen waren, brach über Freudenberg eine Welle des Entsetzens, der Trauer, auch des öffentlichen Interesses zusammen. Wie ist die Lage jetzt, vier Monate später?

Freudenberg: Nach Fall dem Luise kehrte der Alltag nur langsam zurück

„Es war für alle ein Riesenschock, die Tage und Wochen danach geprägt von Fassungslosigkeit“, sagt Freudenbergs Bürgermeisterin Nicole Reschke. Die Stadt, die Leute, die Institutionen und Einrichtungen hätten bislang ungekannte Herausforderungen bewältigen müssen. Die Menschen hätten Fragen gehabt, hätten sich damit an die Schule, die Gemeinden, die Verwaltung gewandt. Hinzu kam das große überregionale Medieninteresse inklusive einiger höchst unschöner Begleiterscheinungen. Das Verhalten mancher Medienvertreterinnen und -vertreter verletzte Grenzen des Anstands, die Bürgermeisterin hatte es öffentlich kritisiert. Luises Schule musste zeitweise sogar abgeschirmt werden, um Unbefugte vom Gelände fernzuhalten.

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Mittlerweile ist es ruhiger geworden. „Das ist auch das, was sich die Menschen in Freudenberg gewünscht haben“, betont Nicole Reschke. Die schreckliche Tat werde natürlich „immer wieder Gesprächsthema sein, aber es wird weniger.“ Das habe nichts mit Gleichgültigkeit zu tun, nichts mit Abstumpfung, sondern sei einfach eine gesunde Entwicklung, ein Zeichen dafür, „dass wir das mit der Verarbeitung schaffen und wieder in den Alltag finden“.

Polizei und weitere Helferinnen und Helfer suchten am 12. März im Freudenberger Wald nach der vermissten Luise. Schließlich entdeckten sie die Leiche der 12-Jährigen.
Polizei und weitere Helferinnen und Helfer suchten am 12. März im Freudenberger Wald nach der vermissten Luise. Schließlich entdeckten sie die Leiche der 12-Jährigen. © Kai Osthoff

Getötete Luise: Eltern zeigen nun größeres Interesse für Medienkonsum ihrer Kinder

Vergessen werden wird die Tat in Freudenberg sowieso nicht, auch nicht darüber hinaus. „Ich glaube aber nicht, dass es das ist, was man außerhalb dauerhaft mit Freudenberg verbindet“, sagt Nicole Reschke. In den ersten Wochen sei es die bestimmende Verknüpfung gewesen. „Ich bin viel unterwegs und bin oft darauf angesprochen worden: ,Ach, ist das DAS Freudenberg?’“, berichtet die Bürgermeisterin. „Aber wir stehen für so viel mehr.“ Es gebe den Alten Flecken als international bekanntes Wahrzeichen, auch die Freilichtbühne habe Strahlkraft, „das sehe ich online auch immer wieder in vielen Posts“.

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Eine Sache allerdings sei geblieben, ergänzt Nicole Reschke; das werde in Gesprächen etwa mit Eltern oder Vereinen immer wieder deutlich. „Es gibt ein größeres Interesse am Medienumgang der Kinder.“ Eltern beschäftigten sich spürbar mehr mit der Frage, was ihre Söhne und Töchter eigentlich mit ihren Smartphones machen und wie man als Vater oder Mutter bedenkliche Ereignisse und Entwicklungen mitbekommen könne. „Das Thema ist haften geblieben.“ Die Gesamtschule beispielsweise hätte einen Vortrag des Experten Moritz Becker von „smiley – Verein zur Förderung der Medienkompetenz“ aus Hannover ausgerichtet.

Nahe des Fundorts von Luises Leiche stellten Menschen Blumen und Grablichter ab. Die Bestürzung über die Tat war von Anfang an groß.
Nahe des Fundorts von Luises Leiche stellten Menschen Blumen und Grablichter ab. Die Bestürzung über die Tat war von Anfang an groß. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Freudenberger Bürgermeisterin: Fall Luise verändert die Perspektive auf viele Dinge

Als Bürgermeisterin „war mir immer wichtig, dass alle Gespräche und Entscheidungen im Interesse von Luises Familie erfolgen“. Außerdem wollte sie „verhindern, dass ein Riss durch die Gesellschaft geht“. Nicole Reschke hatte sehr früh dazu aufgerufen, sich nicht an Spekulationen zu beteiligen und hatte klar Position gegen die erschreckende Fülle an Hasskommentaren und -posts bezogen, die sich über die Sozialen Medien ergossen. „Viel davon kam übrigens von Leuten, die gar nicht hier leben.“

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Persönlich habe der Fall ihre Perspektive verändert, merkt Nicole Reschke noch an. „Man regt sich nach so etwas über viele Dinge weniger auf als vorher – denn es führt einem vor Augen, was die wirklich schlimmen Geschehnisse des Lebens sind.“

In einem Gottesdienst in der evangelischen Kirche in Freudenberg wurde der getöteten Luise am Sonntag nach der schrecklichen Tat gedacht. Einige Tage später fand dort auch die Trauerfeier statt.
In einem Gottesdienst in der evangelischen Kirche in Freudenberg wurde der getöteten Luise am Sonntag nach der schrecklichen Tat gedacht. Einige Tage später fand dort auch die Trauerfeier statt. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Polizei zu Fall Luise aus Freudenberg: „Die Eindrücke werden uns noch lange begleiten“

„Obwohl viele Wochen vergangen sind, kann man es einfach nicht begreifen und die Eindrücke werden uns noch lange begleiten“, beschreibt Stefan Pusch, Pressesprecher der Kreispolizeibehörde Siegen-Wittgenstein, die Stimmungslage im Kreise der Kolleginnen und Kollegen. „Der Alltag kehrte nur langsam zurück.“ Zu den Belastungen, die diese spezielle Tat und ihre Umstände auch für die Beamtinnen und Beamten bedeutet hätten, „kam ein zum Teil weltweites öffentliches Interesse hinzu“. Insbesondere in den ersten Tagen sei das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit hoch gewesen.

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„Hinzu kam eine gewaltige Welle in den sozialen Medien“, sagt Stefan Pusch. „Es wurden Fake-Nachrichten verbreitet und Hasskommentare abgegeben. Zum Schutz der betroffenen Personen musste über Tage hinweg das Internet und die Plattformen der sozialen Medien im Blick gehalten und bei Verstößen reagiert werden.“ Dies sei eine Mammutaufgabe gewesen, bei der andere Polizeibehörden unterstützt hätten. „Eine Ermittlerin sagte noch jüngst, dass sie fassungslos gewesen sei, zu welchen Kommentaren einzelne fähig waren“, berichtet Stefan Pusch. „Oder was Menschen umtreibt, die einen vermeintlichen Täterinnenaccount erstellen und dort Lügen verbreiten, um die aufgeheizte Stimmung noch weiter anzustacheln.“

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst trägt sich in der evangelischen Kirche in Freudenberg in das Kondolenzbuch für die getötete 12-jährige Luise ein.
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst trägt sich in der evangelischen Kirche in Freudenberg in das Kondolenzbuch für die getötete 12-jährige Luise ein. © Jürgen Schade

Polizei Siegen: Themen wie Mobbing und Gewalt unter Kindern rücken in den Fokus

Im Laufe der Zeit hätten, diese Dinge aufgehört, doch „die Sachbearbeitung ist noch nicht abgeschlossen, so dass der Sachverhalt hier nach wie vor präsent ist“. Auch der kriminalpolizeiliche Opferschutz stehe weiter als Ansprechpartner unter anderem für Fragen und Vermittlung von Unterstützungsangeboten zur Verfügung. Auffallend seit dem Ereignis sei „eine erhöhte Sensibilisierung in der Bevölkerung in dem Themenkomplex Mobbing/Gewalt“, sagt Stefan Pusch. „Es kommen gefühlt mehr Anfragen oder Anzeigen herein, wo Kinder auffällig oder sogar gewalttätig wurden.“ Auch die Anfragen in Sachen Beratung in diesem Bereich hätten zugenommen.

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In den anderen Arbeitsbereichen der Polizei sei mittlerweile wieder der Alltag eingekehrt. „Der Fall Luise gerät von der Arbeit her zwar mehr und mehr in den Hintergrund, wird aber aufgrund der außergewöhnlichen Umstände noch sehr lange im Hinterkopf präsent sein und einige Kolleginnen oder Kollegen ihr Leben lang begleiten“, merkt Stefan Pusch an. „Eins ist jedoch allen klar: Wir alle hoffen, dass so etwas nie wieder passiert.“

Fall Luise: Wie der Landrat sich an den Moment der Todesnachricht erinnert

„Dieser Moment, den kann ich nicht beschreiben“, sagt Landrat Andreas Müller, qua Amt Leiter der Kreispolizeibehörde, über den Augenblick, als sich die Nachricht vom Leichenfund am 12. März in der Aula des Schulzentrums verbreitete. Dort war nach Luises Verschwinden die Sammelstelle für die Helferinnen und Helfer eingerichtet worden, für die Behörden, für die vielen Kräfte von außerhalb. „Es war, als hätte jemand einen Knopf gedrückt“, erzählt der Landrat. Gerade noch hätte hektische Betriebsamkeit geherrscht, hätten jeder und jede gewusst, was sie tun müssen, was als Nächstes zu machen sei. „Von einem Moment auf den anderen wechselt das auf völlige Stille.“

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Es sei ein „sehr besonderer Fall aufgrund des Alters aller Beteiligten“, sagt Andreas Müller. „Es sprengt ja auch erst einmal die Vorstellungskraft, man will das nicht wahrhaben.“ Auch die Kolleginnen und Kollegen bei der Polizei habe das belastet. „Das sind alles Menschen, egal, wie professionell sie sind. Viele haben selbst Kinder. Sowas nimmt man mit nach Hause.“ Außerdem sei man gerade in den ersten Tagen überall mit dem Fall konfrontiert worden, „im Radio, im Fernsehen, in den Vereinen, in der Schule: Alle hatten nur ein Thema“.

Siegen-Wittgenstein: Kreis zieht Konsequenzen aus dem Fall Luise

Die Einsatzkräfte hätten sehr professionelle Arbeit geleistet. Es habe Angebote zur psychosozialen Begleitung gegeben, diese seien auch sehr gut angenommen worden. Das gelte auch für eine Nachbesprechung, zu der der Landrat die beteiligten Kräfte nach acht Wochen in die Siegerlandhalle eingeladen hatte und die bewusst trotz der Ernsthaftigkeit des Anlasses – oder vielleicht gerade deshalb – „in lockerer Atmosphäre“ stattgefunden hätte, um Raum für den hohen Gesprächs- und Informationsbedarf zu bieten.

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Für den Umgang mit Themen wie Mobbing und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen habe der Kreis aus dem Fall Luise Konsequenzen abgeleitet. Die Fassungslosigkeit, sie bleibt, doch sie soll nicht einfach lähmend hingenommen werden. „Wenn wir nichts machen, wird ja nichts besser“, betont der Landrat. Doch die weiteren Schritte müssten gut durchdacht sein. „Wir müssen in Aktion kommen, aber nicht in Aktionismus verfallen.“ Eine Maßnahme sind die Präventionskonferenzen, in denen der Kreis nach den Sommerferien in allen Kommunen mit Akteurinnen und Akteuren, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, in intensiven Austausch gehen will. Ziel: Warnsignale früher erkennen, junge Menschen bei Konflikten und in Krisen besser unterstützen, den Blick schärfen, Gefahrenpotenziale besser erkennen.

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