Hagen. Ein Kinder- und Jugendpsychiater erklärt, wie es dazu kommen kann, dass Kinder Kinder töten – und wie Täter und Täterfamilien damit leben lernen.

Die Tat von Freudenberg sorgt weiterhin bundesweit für Entsetzen: Zwei Mädchen, 12 und 13 Jahre alt, werden verdächtigt, ein gleichaltriges Mädchen getötet zu haben. Prof. Marc Allroggen ist Leitender Oberarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm. Er hat mit jungen Straftätern zu tun, begutachtet zum Beispiel Jugendliche, wenn es um die Frage geht, ob sie schuldfähig sind oder nicht.

Wenn Kinder Kinder töten, dann löst das stets besondere Bestürzung aus. Wie kann es so weit kommen?

Vorweg möchte ich sagen, dass das eine absolute Rarität ist. Tötungsdelikte durch sehr junge Kinder – in diesem Fall unter 14 Jahre - sind zahlenmäßig sehr, sehr selten. Auch bei Jugendlichen sind das eher Einzelfälle. Was dann genau dahintersteckt, kann man nicht pauschal sagen. Und es ist wichtig zu erwähnen, dass in der Öffentlichkeit aus gutem Grund viele Fragen offen geblieben sind. Das dient dem Schutz der mutmaßlichen Täterinnen. Spekulationen zu Motiven oder Abläufen verbieten sich.

Welche Erfahrungswerte haben Sie aus Ihrer Arbeit?

Was wir aus vielen Fällen wissen, ist, dass häufig eine gewisse Dynamik in der Entstehung bei der Tat eine Rolle spielt. Das heißt, dass sich bestimmte Situationen - oft auch aus einem Gruppenkontext heraus - hochschaukeln und eskalieren. Es sind eher Einzelfälle, in denen gezielt vorgegangen wird, weil sich jemand an seinem Opfer rächen will. Typisch ist, dass sich Opfer und Täter kennen.

Prof. Marc Allroggen, Leitender Oberarzt und Sektionsleiter der Institutsambulanz und Forensik in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm.
Prof. Marc Allroggen, Leitender Oberarzt und Sektionsleiter der Institutsambulanz und Forensik in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm. © WP | Universitätsklinikum Ulm / H.Gra

Wie kann es sein, dass ein Kind keine Hemmung verspürt, jemandem Schmerzen zuzufügen bis hin zum Tod?

Wir müssen bedenken, dass gerade jüngere Kinder sehr stark affektiv gesteuert sind. Solche Taten entstehen für gewöhnlich aus einem Impuls heraus, der nicht kontrolliert werden kann. Nicht selten gibt es Vorläufer zur Tat, Kränkungserlebnisse etwa, die aber von Außenstehenden oder Erwachsenen als nichtig erachtet würden. Vor diesem Hintergrund haben wir ein Strafrecht, das bei Kindern unter 14 Jahren automatisch eine Schuldunfähigkeit vorsieht – egal wie schrecklich die Tat auch sein mag.

Ist da kein Regulativ im Moment der Tat?

Rational lässt sich das nicht erklären. Kinder und Jugendliche befinden sich in einem Affekttunnel und können die Tragweite ihrer Handlungen nicht mehr überblicken, auch wenn sie ansonsten wissen, dass man andere Menschen nicht verletzen darf und wissen und spüren, dass sie jemandem Leid zufügen.

Was passiert, wenn die Täter den Affekttunnel verlassen?

Auch hier gilt: Jeder Verlauf ist individuell. Aber bei ganz vielen Jugendlichen, die so etwas getan haben, setzt sehr schnell Reue oder Bedauern ein. Manche wiederum versuchen die Tat auch zu rechtfertigen.

Was geschieht mit dem Kind, wenn die Tateinsicht einsetzt? Können Kinder ermessen, dass Mord eine Tat ist, die nicht geheilt werden kann?

Kinder entwickeln durchaus Schuldgefühle in der Folge der Tat und Jugendliche erfassen auch, dass eine Wiedergutmachung nur bedingt möglich ist. Bei der Verarbeitung der Tat brauchen Täterinnen und Täter psychotherapeutische und kinderpsychiatrische Unterstützung. Die Entwicklungswege sind allerdings sehr individuell und hängen von vielen Faktoren ab.

Von welchen zum Beispiel?

Jugendliche Straftäter erhalten nach einem Tötungsdelikt in der Regel eine Haftstrafe. Wie gelingt danach die Sozialisierung? Konnte die Haft für einen Schulabschluss genutzt werden? Wie ist der soziale Empfangsraum nach der Haft? Wie konnten psychotherapeutische Angebote genutzt werden?

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Was wissen Sie über die Biographien sehr junger Straftäter? Wie lebt es sich mit solcher Schuld?

Die Situation ist zu allererst entsetzlich für die Opferfamilien. Aber auch die Täter und Täterfamilien sind starken Belastungen ausgesetzt, die ein ganzes Leben lang andauern können. Es muss sehr genau geschaut werden, wie sie unterstützt und begleitet werden können, um zu lernen, mit der Tat leben zu können.

Was passiert mit Eltern, deren Kind zum Mörder wird? Können sie ihr Kind dann noch lieben? Oder geraten sie in eine Spirale aus Ablehnung, schlechtem Gewissen und Misstrauen?

Für Eltern ist die Auseinandersetzung mit Taten der eigenen Kinder eine enorme Herausforderung. Dabei reagieren Eltern sehr unterschiedlich, von totaler Ablehnung des Kindes bis hin zu Rechtfertigung der Tat des eigenen Kindes. Bei vielen Eltern bestehen auch Schuldgefühle und sie fragen sich, was sie falsch gemacht haben. Wichtig ist aber gerade für junge Täterinnen und Täter, dass die Eltern sie versuchen weiter zu unterstützen, auch wenn sie das Schreckliche der Tat anerkennen.

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    Gibt es eine wissenschaftliche Grundlage dafür, dass Kinder erst ab 14 strafmündig sind?

    Jein. Natürlich ist dieses Alter erst einmal etwas Normatives, etwas, das juristisch festgelegt worden ist. In den meisten europäischen Ländern wird es ähnlich gehandhabt, weil mit 14 bei den meisten Kindern eine gewisse Reife besteht. Dass man andere Menschen nicht verletzen und töten darf, wissen aber auch deutlich jüngere Kinder. Aber dieses Wissen zuverlässig in Handlung oder besser Handlungsunterlassung bei aggressiven Impulsen zu überführen, wird erst mit zunehmendem Alter wahrscheinlicher.

    Was lässt sich über das Verhalten von Kindern sagen, bevor sie zu Tätern werden?

    Selbstverständlich gibt es Kinder mit langer problematischer Entwicklung, bei denen eine frühzeitige Intervention nicht möglich war oder versäumt wurde. Aber das muss auch nicht zwingend so sein, dass es sich um auffällige oder schwierige Kinder handelt. So etwas kann auch aus dem Nichts passieren. Von daher ist nun der Ruf nach Präventionsmaßnahmen in unmittelbarer Folge dieser Tat auch nur bedingt nachvollziehbar. Wichtig ist aber, dass wir als Gesellschaft dafür sorgen, dass Kinder in einer gewaltfreien Umgebung aufwachsen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie.