Freudenberg/Siegen. Der Fall Freudenberg: Kinder töten ein Kind. Wie Hilflosigkeit und emotionaler Stress manche dazu bringen, ihrer Wut online freien Lauf zu lassen
Die Polizei warnt dringend vor Spekulationen, Falschmeldungen, Gerüchten. Superintendent Peter-Thomas Stuberg kritisiert Versuche, im Internet „ganz schnell Schuld und Strafe“ festzulegen; dass „hemmungslos erschreckend viele nun ihre ersten Steine werfen“. Innenminister Herbert Reul (CDU) ist es leid, dass „immer reflexartig nach solchen Taten neue Gesetze oder eine Strafverschärfung“ gefordert werden.
Unter emotionalem Stress sofort reagieren – ohne Nachzudenken
Es bleibt für viele schier unfassbar, dass in Freudenberg Kinder ein Kind getötet haben. Wut und Empörung sind groß über die Mädchen, die gestanden haben, die 12-Jährige getötet zu haben. Auf sie und auch ihre Familien entlädt sich im Internet der Hass: Die Minderjährigen sollen hart bestraft werden, ihre Fotos, Namen und Adressen werden veröffentlicht, vielfach auf Fake-Accounts. Fachleute sprachen früh von einer Hexenjagd. Woher kommen Wut und Hass, warum reagieren Menschen so?
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Generell ist das kein neues Phänomen, erklärt Prof. Dagmar Hoffmann, an der Universität Siegen Lehrstuhlinhaberin für Medien und Kommunikation: „Auch vor dem Internet gab es Fluchen, Denunzieren, an den Pranger stellen.“ Dahinter stehen oft Verunsicherung, Ohnmacht, emotionale Überforderung angesichts einer unfassbaren Tat. Das beschäftigt die Menschen, irgendwie müssen sie damit umgehen. Der Wut im Netz Ausdruck zu verleihen, kann ein Ventil sein, Druck abbauen. Vor allem in den ersten Momenten, wie der Soziologe Dr. Olaf Jann, ebenfalls Uni Siegen, erläutert: Unter Stress sofort zu reagieren, ohne groß zu überlegen, sei ein uralter, archaischer Impuls, tief verankert in der menschlichen Psyche. „Der Affekt wird sofort herausgelassen, ohne Umweg übers Großhirn.“ Gerade weil wir in einer „Positivkultur der Affekte“ leben, tragen manche Menschen auch hohes Aggressionspotenzial in sich, das dazu führt, dass gesellschaftliche Konflikte heutzutage hochemotional ausgetragen werden, so Jann.
Das Internet und Social Media „verlangen“ permanent Emotionen
Gerade im Medienzeitalter, mit Internet und Social Media, werden permanent hochemotionale Botschaften gesendet; die Menschen sind geradezu aufgefordert, immerzu ihre Befindlichkeiten mitzuteilen – meist wohl eher positiver Art, aber längst nicht nur. „Trauer und Wut sind oft schwer zu identifizieren und zu artikulieren“, sagt Dagmar Hoffmann. Aber irgendwo müssen die Menschen damit hin. Einen Kommentar zu schreiben oder zu teilen könne ihnen das Gefühl geben: Ich habe etwas getan. Der emotionale Druck lässt etwas nach, zumindest kurzfristig.
Reul warnt vor Schnellschuss-Urteilen
Man müsste generell darüber nachdenken, „jugendliche Kriminelle noch schneller zu sanktionieren, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Entschieden, schnell, wirkungsvoll. Mit dieser Devise wären wir sicherlich erfolgreicher, als das Alter für strafmündige Kinder herabzusetzen“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul zu den umgehend gestellten Forderungen.
Im Fall des getöteten Mädchens warnte der Minister vor „Schnellschuss-Urteilen“. „Der Fall ist vermutlich weitaus komplexer, als wir alle glauben“, so Reul. Seit 2018 habe es in NRW einschließlich dieses Falles sieben Kinder gegeben, die wegen Mordes oder Totschlags tatverdächtig gewesen seien. „Jeder Fall hat andere Ursachen und muss einzeln für sich untersucht werden.“
Bei diesen emotionalen Ausbrüchen spiele es keine Rolle, dass die Menschen Hintergründe nicht kennen oder in der Debatte um das Strafmündigkeitsalter kaum juristische oder entwicklungspsychologische Kenntnisse haben. „Es gibt in allen Gesellschaften ein starkes Gerechtigkeitsempfinden“, sagt Dr. Jann: Wenn gegen die Grundregeln, den Konsens des Zusammenlebens verstoßen wird, verlangen Menschen, dass die Täter bestraft werden. Das sei keineswegs ein deutsches Phänomen, und auch nicht ausschließlich erlernt: Die Soziologie beobachtet diesen Wesenszug in allen Gesellschaften und Kulturen.
Online ist die Hemmschwelle für schnelle, unmittelbare Kommunikation niedriger
Im Internet trifft man auf Gleichgesinnte – auch in Fällen wie diesem. Menschen mit ähnlichen Ansichten, Meinungen, Gefühlen bestärken sich gegenseitig, das stiftet Gemeinschaft, was ebenfalls emotional entlastend wirken kann, sagt Prof. Hoffmann: „Wir leben in einer komplizierten Zeit mit komplexen Problemen“ – Menschen sehnen sich nach schnellen und einfachen Lösungen. Das Gefühl, mit der Überforderung nicht allein zu sein, kann helfen.
Anders als im realen Leben ist die Hemmschwelle, schnell und unmittelbar zu kommunizieren online niedriger. Einen Kommentar in der gefühlten Anonymität des Internets zu schreiben: Das ist etwas anderes, als diesen Satz einem anderen Menschen ins Gesicht zu sagen. „Empörungen werden quantitativ nicht unbedingt mehr, sie werden vor allem sichtbarer“, so Hoffmann über diese Form der Kommunikation. Früher, vor dem Internet, wurden manche Dinge nur an Stammtischen geäußert. Heute kann die Welt mitlesen. Es handle sich um eine zwar „laute“, aber dennoch im Vergleich kleine Menge von Personen, die mit ihrem Kommunikationsverhalten Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die, die sich still ins Kondolenzbuch eintragen, im privaten Umfeld über ihre Erschütterung sprechen, drängen nicht in den Fokus.
Die, die alles für ihre Zwecke instrumentalisieren, tun das auch mit dem Fall Freudenberg
Prof. Dagmar Hoffmann und Dr. Olaf Jann sehen keine Belege für eine „Verrohung“ der Gesellschaft. Der Fall Freudenberg ist erschütternd, aber ein Einzelfall – auch wenn er das Bild von kindlicher Gewalt prägen dürfte. Man müsse Wege finden, mit negativen „Begleiterscheinungen“ des Internets – Hasskommunikation, Vorverurteilungen, Online-Pranger – umzugehen, die Existenzen vernichten können. Die Zivilgesellschaft sei gefragt, sich dem entgegenzustellen und das tut sie zuweilen auch.
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Empörungskommunikation ist ein Forschungsfeld Prof. Hoffmanns, in diesen Dynamiken gebe es immer dieselben Rollen beteiligter Akteure: Aufklärer, Bevormunder, Besserwisser zum Beispiel. Die, die den Rechtsstaat immer schon in Fragen gestellt haben, instrumentalisieren auch so einen Vorfall. Viele haben ein großes Informationsbedürfnis, suchen nach Sinn im für sie Unfassbaren. Online stoßen sie auf Leute, die sich äußern, auch wenn sie eigentlich selbst nichts wissen und nur Gerüchte beisteuern können. „Die Nutzerinnen und Nutzer sind nicht alle aufgeklärt und vernunftgeleitet“, sagt sie. Wichtig ist aber: Auch der oft so geschmähte „Online-Mob“ ist keine homogene Gruppe empathieloser Menschen, die alle nicht zur Reflexion fähig sind.