Freudenberg. Eine 12-Jährige wird erstochen, tatverdächtig sind fast gleichaltrige Mädchen. Freudenberg steht unter dem Eindruck schrecklicher Nachrichten.

Ein zwölfjähriges Mädchen aus Freudenberg ist umgebracht worden, mutmaßlich von zwei fast Gleichaltrigen. Immer mehr Details der grausamen Tat machen am Dienstag auch in Freudenberg die Runde.

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Freudenberg, Schulzentrum

Kurz nach Mittag an diesem verregneten März-Dienstag. Rush-Hour vor dem Büschergrunder Schulzentrum. Ein Bus nach dem anderen fährt an die Haltestellen heran. Die Jugendlichen wirken gelöst, manche lachen. Die vermeintliche Normalität täuscht. Vor der Esther-Bejarano-Gesamtschule parkt ein Streifenwagen des städtischen Ordnungsamtes, hinter der Glasscheibe der Mensa beobachten Uniformierte den Ablauf, die Stadtfahne vor dem Gebäude ist auf halbmast gesetzt. Ihre zwölfjährige Mitschülerin aus der 7. Klasse ist am Sonntag tot aufgefunden worden, erstochen, womöglich von zwei fast gleichaltrigen Mädchen. Werden sie gleich in den Nachrichten sagen. Zwei Lehrerinnen und ein Lehrer stehen auf dem Parkplatz, auch sie sprechen über das Geschehene. Aber nicht mit dem Reporter. Die Schule hat ihre Homepage abgeschaltet: „Wir haben am Wochenende unsere Schülerin, Mitschülerin und Freundin verloren. Viel zu früh wurde sie gewaltsam aus unserer Mitte und aus ihrer Familie entrissen. Unsere Gedanken und Wünsche sind jetzt und in der nächsten Zeit bei ihrer Familie und ihren Freundinnen und Freunden. Wir wünschen ihnen viel Kraft.“

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Die Schulberaterin

Was, wenn jemand von diesen Jungen und Mädchen an der Haltestelle gleich zu Hause erzählt? Oder wenn andere Kinder in Siegen, Kreuztal oder sonstwo erfahren, was in Freudenberg Schreckliches geschen ist? „Das wäre gut“, sagt Beate Schwagmaier, Leiterin der Regionalen Schulberatung Siegen-Wittgenstein – gut, wenn das Mädchen oder der Junge spricht: „Kinder sollen keine Ängste in sich reinfressen.“ Und was sagt man dann? „Ich würde wahrscheinlich zurückfragen.“ Was weiß das Kind, was denkt es, was meint es dazu? Und dann kommt es aufs Alter an. „Sechsjährige haben noch keine richtige Vorstellung vom Tod. Aber sie wissen, dass es massive Auseinandersetzungen untereinander gibt.“ Bei Älteren können Gespräche anspruchsvoller werden. Wichtig sei aber auch bei ihnen, „deutlich zu machen, dass es etwas Ungewöhnliches ist“, sagt Beate Schwagmaier, „etwas sehr Schlimmes, aber nichts, was immer wieder passiert.“ Das, so die Leiterin der Schulberatung, ist übrigens dann auch schon eine sehr erwachsene Haltung: Nicht jeden Tag mit der nächsten Katastrophe rechnen. Und doch nicht garantieren können, dass niemals wieder etwas Schlimmes passiert.

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Kinder sollen nicht Angst bekommen – und man kann ihnen Rüstzeug vermitteln, sich stark zu machen: „Was kann man tun, wenn man Streit hat?“ Hilfreich, so Beate Schwagmaier, kann auch ein Austausch unter Eltern sein: Wie umgehen mit Streit, mit Mobbing unter Kindern? „Es ist wichtig zu wissen, was bei den Kindern los ist. Eltern müssen nicht immer eingreifen, aber einen Rat geben können. Sie sind die wichtigste Person für ihr Kind.“ Eltern sollten gut beobachten: Wenn ein Kind nicht mehr gut schläft oder schlecht isst, könnte das auch eine psychosomatische Reaktion auf nicht bewältigte Erlebnisse sein. Was gar nicht gut ist: Kinder von schlimmen Nachrichten fernhalten. Weil es nicht gelingt, „das ist illusionär.“ Und weil es ein Tabu schafft, weil schlimme Phantasien sich verfestigen. „Eltern müssen die Möglichkeit haben, Phantasien zu korrigieren.“

Freudenberg, evangelische Kirche

Pfarrer Thomas Ijewski schließt noch eine Tür auf, begrüßt die Ankommenden. Auch hier gibt es die Sprachregelung: Gegenüber den Medien äußert sich nur der Superintendent. In der Kirche, die jetzt von 9 bis 19 Uhr geöffnet ist, sind ein Mann und zwei Frauen. Die Frauen auf der Durchreise, eigentlich aus touristischen Gründen hier in der Bilderbuch-Altstadt, dem Alten Flecken. Sie haben die Nachrichten gehört. „Wie schrecklich.“

Auf einem Tisch liegt das Kondolenzbuch für das Mädchen aus, das im August ihren 13. Geburtstag hätte feiern können. „Wir sind im tiefsten Herzen bei euch“, schreibt eine Familie. „Danke für die Zeit, die gemeinsam möglich war“, steht auf einer anderen Seite. Die erste Klassenlehrerin des Mädchen war in der Kirche: „Wenn ich von dir erzähle oder an dich denke, leuchten meine Augen.“ Manche überwinden ihre Sprachlosigkeit nur mit Mühe, ihre Einträge sind kurz: „Einfach unfassbar.“ Und: „Wir haben keine Worte. Unsere Gedanken sind bei euch.“ Zum Trost stellt sich Trostlosigkeit: „Die Frage nach dem ‘Warum nur’ bleibt unbeantwortet, und nichts wird mehr, wie es war.“ Auf einer Seite kondolieren Bürgermeisterin Nicole Reschke und ihre Stellvertreter Daniel Knie und Alexander Held: „Wir drücken unsere Ohnmacht aus und suchen Trost im gemeinsamen Schweigen.“

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Der Superintendent

„Wir machen ein Angebot für Menschen, die einen Ort brauchen, wo sie ihren Gefühlen, der Trauer, dem Entsetzen Ausdruck verleihen können“, sagt Peter-Thomas Stuberg, Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein. „Kirchen sind seit Jahrhunderten Zufluchtsorte“, erläutert er die Entscheidung für das Angebot in Freudenberg. Einerseits könnten Menschen dort auch in schwierigen Momenten Gemeinschaft erleben. „Das andere ist, dass wir menschliche Nähe anbieten: zu hören, zu sprechen, um gemeinsam Wege zumindest der Linderung zu suchen.“

Ob die Besucherinnen und Besucher Gespräche wünschen oder ob sie vielleicht lieber alleine auf einer Bank sitzen und beten, nachdenken, ihren Gefühlen nachgehen möchten, bleibt ihnen überlassen. Welcher Religion sie angehören, ob sie überhaupt gläubig sind, spiele keine Rolle. „Wir wollen Menschen helfen, den Schmerz auszuhalten“, sagt Peter-Thomas Stuberg. „Eine Kirche ist schon ein besonderer Ort. Das ist etwas Anderes als allein im heimischen Wohnzimmer.“

In Freudenberg müssten die Menschen mit einem zusätzlichen Aspekt umgehen. „Der erste Schrecken mischt sich mit dem Schrecken, der wegen der Umstände hinzukommt“, sagt der Superintendent angesichts der während der Pressekonferenz in Koblenz mitgeteilten Ergebnisse. Nicht nur, dass ein 12-jähriges Mädchen getötet worden sei – die Tat sei auch noch von zwei Mädchen, 12 und 13 Jahre alt, gestanden worden.

Freudenberg, Marktstraße

„Es ist schlimm“, sagt eine Freudenbergerin, die durch den Alten Flecken läuft. „Man sieht niemanden auf der Straße.“ Sie selbst sei regelmäßig im Wald unterwegs, wo das Mädchen getötet wurde. „Da kriegt man nur Angst.“ Sie verfolgt die aktuellen Entwicklungen in den Nachrichten, möchte mehr Informationen zum Unerklärlichen erhalten. Die Verantwortlichen für die Tat müssten bestraft werden, fordert sie. Auch unten im Hit-Markt ist der Tod des Mädchens Thema. Es sind nur Gesprächsfetzen, die zu hören sind, „Polizei“ ist einer von ihnen. Die Menschen kennen sich in der Region, eine Seniorin richtet einer Bekannten Grüße aus. „Es ist entsetzlich“, sagt eine Freudenberger Seniorin über das Geschehene. Nicht nur die Menschen in Freudenberg, sondern alle seien „entsetzt“. „Gruselig“ sei das, was geschehen ist – ihr fehlen die Worte, alles scheint unwirklich.

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Die Bürgermeisterin

„Für uns alle ist das, was wir gehört haben, entsetzlich und fernab jeder Vorstellungskraft“, sagt Freudenbergs Bürgermeisterin Nicole Reschke nach der Pressekonferenz in Koblenz. Die Menschen würden sich angesichts des Geschehenen Antworten wünschen, zum Teil hätte es diese gegeben – „aber die Frage nach dem Warum bleibt offen“. In der Schule des getöteten Mädchens stünden weiterhin speziell geschulte Fachkräfte als Ansprechpersonen bereit. Wichtig sei dabei, den verschiedenen Bedürfnissen individuell Rechnung zu tragen. Es gebe Schülerinnen und Schüler, die nun ihren regulären Unterricht und den sicheren Rahmen der Routine bräuchten – und andere, die Gespräche benötigten. Außerdem sei inzwischen ein Trauerraum in der Schule gestaltet worden. Die Kinder und Jugendlichen würden zu nichts gedrängt, es handele sich bei allem um Angebote. „Selbst für uns Erwachsene ist es schwierig, damit umzugehen“, beschreibt Nicole Reschke die Situation. „Sonntag war der schlimmste meiner Amtszeit. Und dieses Szenario endet nicht. Es ist sehr belastend, für eine ganze Stadt.“

Freudenberg, irgendwo

Hier wohnt ihre Familie. Auf der Straße ist kein Mensch. Ein Bobbycar und Kinderspielzeug liegen vor einem Haus. Unten, an der Bushaltestelle beim Rathaus, am Mórer Platz, wartet ein Fernsehreporter ausdauernd auf Menschen, die ihre Empfindungen in Bild und Ton dokumentieren lassen.

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