Lüdenscheid. Warum ein Anwohner 1000 Fotos macht, wer 1000 Baupläne prüft und wer weit weg von zu Hause jeden Tag an der Brücke arbeitet.
Eigentlich ist es undenkbar. Eine Sache der Unmöglichkeit. Aber sie ist Realität: Die Autobahn 45, wichtiges Verbindungsstück von Nord nach Süd, Lebensader der Region Südwestfalen, ist gesperrt. Nicht nur kurzfristig, wie man am 2. Dezember 2021 noch hoffen durfte, als die Entscheidung wegen Einsturzgefahr der Talbrücke Rahmede bei Lüdenscheid getroffen werden musste. Nein, lange, länger als eigentlich möglich und zumutbar. Am Dienstag (27. August 2024) sind es 1000 Tage Sperrung, 1000 Tage Ärger für Autofahrer, 1000 Tage Stress für Anwohner, 1000 Tage Hindernis für die Wirtschaft. Fünf Geschichten rund um Tausend.
1000 Sorgen: Der Anwohner
Es ist nicht weit von der Brücke zum Haus von René Jarackas. Es liegt direkt an der Bedarfsumleitung, jener Strecke, die jetzt seit mehr als zweieinhalb Jahren viele nutzen, die früher über die A45 fuhren. 1000 Tage haben er und seine Familie schon den Stress, den Ärger, den Schmutz, den Krach, die schlaflosen Nächte. „Es erdrückt einen“, sagt er.
Mittlerweile, sagt er, reiße der Asphalt vor seiner Tür auf. Das erhöhe die akustischen Belastungen durch Lkw noch weiter. Keine Nacht schliefe er gut, sagt er, auch weil die Lkw bei ihm vor der Tür gern hupten. „Da steht das Schild, dass man 30 fahren soll wegen Lärmschutz - das ärgert manche offenbar so sehr, dass sie andere Wege finden, laut zu sein.“ Nur eine von 1000 Sorgen.
„Ich erwarte von der Politik - egal auf welcher Ebene - gar nichts mehr. Wir sind ja nur so ein paar Anwohner, was haben wir schon zu melden?“
Die Tochter (19), die gerade Abitur macht, melde sich manchmal wegen Kraftlosigkeit und Übermüdung vom Unterricht ab. Der Sohn (15) spiele Volleyball. Die einzige Halle dafür liege am anderen Ende der Stadt, am anderen Ende des Verkehrschaos. Er würde gern zwei oder drei Mal in der Woche spielen, aber ihn immer zu fahren, schafft René Jarackas nicht. Der Bus sei auch keine Lösung.
Längst herrscht Frustration - und Resignation. „Ich erwarte von der Politik - egal auf welcher Ebene - gar nichts mehr. Wir sind ja nur so ein paar Anwohner, was haben wir schon zu melden?“
1000 Bilder: Der Brückentourist
Für Hans-Gerd Heuel bedeutet die Brücke eine Art neues Hobby: Der 74-Jährige wohnt nahe der Brücke und hat sein Jagdgebiet an der Südseite rechts und links der Autobahn 45. Seit die ersten Bäume dort gerodet und mit imposanten Seilzugkränen das Tal hinaufgezogen wurden, macht Heuel Fotos von der Baustelle. Weit über 1000 Stück hat er schon angefertigt, alle fein säuberlich nach Datum geordnet und archiviert. Alle 14 Tage, sagt er, sei er an der Baustelle und mache seine Bilder. „Mittlerweile kennen mich die meisten dort oben“, sagt er, „und wissen, dass ich nichts Schlimmes im Sinn habe.“
Brückentourist Nummer 1. Aber warum? „Eigentlich will ich allen, die sich für die Brücke interessieren, sagen, dass es vorwärtsgeht“, sagt Heuel. Einen Teil seiner Bilder, immer etwa ein Dutzend, stellt er nämlich bei Facebook in eine öffentliche Gruppe („Lüdenscheid – gestern, heute, morgen“). „Manche meckern ständig und sagen, dass man an all die Verfehlungen im Zusammenhang mit der Brücke denken müsse. Ich sehe die positive Geschichte – und das will ich weitergeben.“
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1000 Kilometer Fahrt: Der Mann von der Baustelle
Franz Stöffler ist ein drahtiger Kerl, Österreicher, 62 Jahre alt, Bauleiter Stahlbau an der Rahmedetalbrücke. „Es ist schon außergewöhnlich, dass hier alles gleichzeitig passiert“, sagt er. Und meint: Planung, Fertigung, Ausführung. Zum anderen ist das sein wohl letztes großes Projekt.
Er war Monate und Jahre auf Baustellen in Schweden, in Tschechien, in Spanien, auf Sri Lanka, in Laos, wo er mitten im Dschungel Handyempfang hatte – anders als manchmal im Sauerland. Wenn 2026 in Lüdenscheid Schluss ist, dann ist die Rente nahe, dann kommen höchstens noch kleinere Projekte. „Ich habe schon einige Baustellen gesehen. Aber das hier ist ein Highlight zum Abschluss“, sagt er.
Stöffler koordiniert die Abläufe. Derzeit laufen die Vorbereitungen für den ersten Vorschub der Brücke Richtung Mitte. Es ist ein Leben für die Baustelle. „Arbeiten, essen, schlafen“, sagt er – und es klingt, als mache ihm das durchaus Spaß.
Zwei Wochen am Stück ist er in Lüdenscheid vor Ort im Hotel, dann geht‘s vor dem Wochenende nach Hause ins Zillertal zur Familie. 750 Kilometer hin, nach dem Wochenende 750 Kilometer wieder zurück ins Sauerland. „Ich kann nicht sagen, dass es mir nicht schwerfällt loszufahren“, sagt er über den Moment, wenn es wieder zur Baustelle geht. Aber das ist nun mal sein Job. Seine Frau und die vier mittlerweile erwachsenen Kinder kennen es kaum anders. „Wenn ich dann nach Hause komme, brauche ich nicht zu meinen, ich hätte was zu sagen“, sagt Stöffler mit einem Augenzwinkern.
1000 Mal eine Million Euro: Die Wirtschaft
Die Südwestfälische Industrie- und Handelskammer (SIHK) zu Hagen hatte kurz nach der Sperrung der A45 eine Studie in Auftrag gegeben, wie hoch wohl der gesamtwirtschaftliche Schaden als Folge sein könnte. Ergebnis: eine Million Euro am Tag. Mal Tausend gerechnet macht das nun eine Milliarde Euro Schaden - mindestens. „Wir haben schon damals gesagt, dass diese Zahl sehr konservativ gerechnet war“, sagt SIHK-Präsident Ralf Stoffels, „die volkswirtschaftlichen Folgen werden noch anhalten, wenn der Verkehr schon längst wieder über die Brücke fließt.“
„Es kann doch nicht sein, dass die Region mit diesen Schäden in Verantwortung des Bundes allein gelassen wird!“
Unterbliebene Investitionen, fehlende Innovationen, verschleppte Modernisierung - das seien „verpasste Zukunftschancen, die lange nachwirken werden. Die Kosten für die Reparatur der regionalen Straßen aufgrund der Überbelastung kommen dann noch dazu.“ Schließlich bröseln die Brücken und Straßen rund um Lüdenscheid besonders heftig.
1000 Tage Sperrung: So sieht die Baustelle an der A45 aus
Die Bundespolitik, bemängelt Stoffels, scheine das nicht zu interessieren. „Was fehlt, ist die Bereitschaft Berlins, sich an den Kosten der Reparaturen auch an Landes- und kommunalen Straßen zu beteiligen. Es kann doch nicht sein, dass die Region mit diesen Schäden in Verantwortung des Bundes allein gelassen wird!“
1000 Pläne: Der wichtige Schreibtisch
Mehr als 1000 Einzelpläne und andere Ausführungsunterlagen müssen für den Bau geprüft und genehmigt werden - so lautete die Prognose beim Baustart im Oktober 2023. Sie alle gehen bei der Autobahn GmbH Westfalen über den Schreibtisch von Svetlana Koserosch und Stephan Eichholz. Das Duo steuert den Prüf- und Genehmigungsprozess. Beim Neubau der Talbrücke Rahmede ist dies aufwändiger, da die Zahl der eingereichten Pläne höher ist als bei anderen Bauvorhaben. Grund: Zur Beschleunigung des Neubaus übernimmt das Bauunternehmen selbst die Planung und Konzeptionierung des Bauablaufs.
Bis heute waren es 725 Pläne. „Es kommen aber noch immer neue hinzu, da noch nicht für alle Bauteile die Ausführungsplanung vollständig vorliegt“, sagt Svetlana Koserosch. Unterstützt werden die beiden Ingenieure bei ihrer Arbeit auch von externen Prüfern, die zum Beispiel bei Spezialthemen wie Statik oder Stahlverarbeitung alle Details in den Blick nehmen. „Im Team können wir gewährleisten, dass alle Pläne umgehend bearbeitet und freigegeben werden, so dass durch den Prüf- und Genehmigungsvorgang keine Zeit verloren geht“, sagt Stephan Eichholz. Bis Mitte 2026 soll schließlich der Verkehr zumindest auf einer Brückenhälfte wieder freigegeben werden. Bislang sieht es so aus, als wenn das klappen könnte.