Hagen/Geseke. In Geseke entgleist im September 2023 ein Güterzug, der Lokführer stirbt. Nun weiß die Staatsanwaltschaft, wie das passieren konnte.

Die Videoaufnahmen sind zufällig entstanden durch eine Kamera an einem Privathaus. Sie zeigen den Güterzug wenige Sekunden, bevor es zum tödlichen Unfall kommt: Wie er mit recht hoher Geschwindigkeit vorbeirauscht und Flammen aus der roten Diesellok schlagen. Und sie zeigen: Den Lokführer, der nicht vorn den Zug steuert, sondern zwischen den Wagen sitzt.  

Augenblicke später entgleist der Zug in einer langgezogenen Linkskurve in der Ortschaft Geseke (Kreis Soest), wo er im nahen Zementwerk beladen wurde. Wagen springen aus dem Gleis und schieben sich ineinander. Tonnen von Zementpulver begraben den Lokführer, einen jungen Mann aus Warstein, der seinen Job so sehr liebte. Wenn man ihn als Kind suchte, sagen Freunde und Familie, dann war er gewiss am Bahnhof, um sich die Güterzüge zur Warsteiner Brauerei oder zum Steinbruch anzuschauen. Ein tragischer Unfall, der rätselhaft wirkte und Fragen aufwarf. Fragen, die nun zum Teil geklärt scheinen.

Staatsanwaltschaft hat keine Hinweise auf Fremdverschulden

Mehr als ein Jahr nach dem Geschehen am 10. September 2023, einem sonnigen Sonntag, ist das Gutachten durch einen technischen Sachverständigen fertiggestellt, das die zuständige Staatsanwaltschaft Paderborn in Auftrag gegeben hat. Demnach war „die Unfallursache, dass das Bremssystem durch den Lokführer nicht ordnungsgemäß aktiviert worden ist“, teilt Oberstaatsanwalt Ralf Mayer, Sprecher der Anklagebehörde, auf Nachfrage mit. „Auf einer Gefällestrecke konnte der Zug dann nicht mehr zum Stehen gebracht werden.“

Mit etwa 70 oder 80 Stundenkilometern sei der Zug im Weichen- und Kurvenbereich unterwegs gewesen. „Wesentlich schneller als erlaubt“, sagt Mayer. 30 Stundenkilometer seien dort in etwa zulässig. Hinweise auf ein Fremdverschulden gebe es nicht.

„Die Unfallursache ist, dass das Bremssystem durch den Lokführer nicht ordnungsgemäß aktiviert worden ist.“

Ralf Mayer
Sprecher der Staatsanwaltschaft Paderborn

Noch aber wird der Fall nicht gänzlich abgeschlossen: Die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchungen (BEU) in Bonn erstellt derzeit noch ein eigenes Gutachten. Wann das zu erwarten ist, kann die Behörde derzeit noch nicht absehen. „Das sind völlig getrennte Vorgänge, gleichwohl will ich das Ergebnis abwarten“, sagt Mayer: „Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass es zu anderen Ergebnissen kommt.“

Das bisherige Ergebnis ist, dass der Lokführer ganz offenbar Dinge nicht getan hat, die dringend hätten getan werden müssen. Dabei handelt es sich um durchaus umfangreichere Tätigkeiten, wie die Staatsanwaltschaft feststellt. Was genau?

Entgleiste Lok, zusammengeschobene Wagen, feiner Zementstaub: Der Lokführer überlebte das Unglück nicht.
Entgleiste Lok, zusammengeschobene Wagen, feiner Zementstaub: Der Lokführer überlebte das Unglück nicht. © dpa | Friso Gentsch

Michael Gerhards, Vorstandsmitglied in der Ortsgruppe Bestwig der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), kannte den verunglückten Lokführer persönlich. Neulich erst hat er Fotos aus der Vergangenheit sortiert, auf denen der junge Kollege zu sehen ist. Gerhards kennt das Gutachten nicht, er war bei dem Unfall nicht dabei. Aber er weiß, wie das Bremssystem korrekt aktiviert wird.

Eisenbahnen in Deutschland werden in der Regel mit Druckluft gebremst. „Es gibt eine Hauptluftleitung, die die Lokomotive mit allen gekuppelten Wagen verbindet“, erklärt Gerhards. Wird während der Fahrt Luft aus der Leitung abgelassen, greifen die Bremsen.

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An jeder Kuppelstelle sitzt auch ein Hahn, um die Leitung ganz zu öffnen oder ganz zu schließen. Diese Hähne müssen vor Fahrtbeginn geöffnet sein. Ansonsten hat man „den Zug nicht an der Luft“, wie Gerhards im Bahnerjargon formuliert.

Zudem sehen die Vorschriften vor Fahrtbeginn eine Bremsprobe vor, also die Vergewisserung, dass das System funktioniert. „Normalerweise macht man eine Bremsprobe, indem man den Zug abgeht und an jedem Wagen schaut, ob die Bremsen angelegt sind. Danach löst man die Bremse und geht die Wagen erneut ab“, sagt Gerhards. Man sehe das mit bloßem Auge.

Warum das System nicht ordnungsgemäß aktiviert wurde, dürfte ein Rätsel bleiben. War es Hektik? Eile? Unvorsicht?

Steuerung des Zuges per Fernbedienung

Die Videoaufnahmen belegen, dass sich der Lokführer zwischen den Wagen befand. Offenbar steuerte er den Zug mit einer Fernbedienung – was bei manchen Fahrten ein durchaus übliches Vorgehen sein kann, wie Experten schon kurz nach dem Unfall darlegten. Oder wollte er den Zug dort zwischen den Wagen doch noch zum Stehen bringen? Spekulation. Zumindest verließ er den Zug nicht und versuchte bis zum Schluss alles, um das Unglück zu verhindern.  

Die Flammen, die aus der Diesellok schlagen, passen nach Einschätzungen von Bahnkennern durchaus zum Szenario der mangelnden Bremsfähigkeit: Die Geschwindigkeit des Zuges könnte ungewollt viel zu hoch für den eingelegten Gang gewesen sein, sodass das Getriebe in der Folge explodiert sein könnte. Möglich aber auch, dass Funken schlugen durch vergebliche Bremsversuche und Ölreste sich entzündeten.

Unfall ereignet sich auf der Hauptstrecke

Es war eines der schwersten Zugunglücke der vergangenen Jahrzehnte in Südwestfalen. Aber eines, das trotz des tragischen Todesfalls möglicherweise noch glimpflich ausging. Denn der Güterzug entgleiste nach einer langgezogenen Linkskurve, die von einem Privatgleis auf die Hauptstrecke führt. Die Hauptstrecke, auf der zum Beispiel auch Regionalbahnen fahren.

Der Mann, der den Zug steuerte, wollte nie etwas anderes machen, als Lokführer zu sein. Er war nach Einstieg in den Beruf erst im Personenverkehr im Sauerland unterwegs, dann auf Güterzügen bundesweit und international: Zum Hafen in Rotterdam, nach Salzburg, nach Berlin, zum Hamburger Hafen, nach München, nach Aachen. Sein großer Traum: Einmal nach Amerika zu reisen, um die riesigen doppelstöckigen Güterzüge zu sehen, die es dort gibt. Der Traum bleibt unerfüllt.