Brilon/Berlin. SPD-Schwergewicht Dirk Wiese aus dem Sauerland stellt Kanzler Scholz infrage. Doch in der Region bekommt er Gegenwind von Genossen.
Am Tag danach ist er schweigsam. Dirk Wiese will sich gegenüber der WESTFALENPOST nicht noch einmal äußern. Nicht erklären, was er denn nun genau gemeint hat mit den Formulierungen in der von ihm mit verfassten Erklärung, die bundesweit für Schlagzeilen sorgt und als Abgesang auf Olaf Scholz als erneuter Kanzlerkandidat der SPD gewertet wird.
Klar ist nun: Mit Friedrich Merz (CDU) könnte nicht nur der nächste Bundeskanzler aus dem Sauerland kommen. Sondern auch der Mann, der am Ende am entscheidenden Schritt mitgewirkt hat, um Scholz zu verhindern: Dirk Wiese, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Brilon. Steht er allein mit seiner Meinung in der Region? Eine Zufalls-Befragung der WESTFALENPOST unter Abgeordneten und örtlichen Parteifunktionären zeigt: Noch gibt es mehr Scholz- als Pistorius-Befürworter.
Zunächst aber: Warum wiegen die Worte des Sauerländers so schwer? Dirk Wiese hat viele Posten mit Einfluss: Er ist Vize-Chef der Bundestagsfraktion, er ist Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD. Und er ist mit der Parteilinken Wiebke Esdar Chef der Bundestagsgruppe der SPD-Abgeordneten aus NRW. Und eben dieses mächtige Führungsduo ist öffentlich auf Distanz zu Olaf Scholz gegangen. 96 Tage vor der Bundestagswahl wird das Grummeln in der SPD damit zu einem Beben.
„Hören viel Zuspruch für Boris Pistorius“
„Im Zentrum steht die Frage, was die beste politische Aufstellung jetzt für diese Bundeswahl ist. Dabei hören wir viel Zuspruch für Boris Pistorius.“ Das sind die beiden Sätze, mit denen Esdar und Wiese die Debatte innerhalb der deutschen Sozialdemokratie befeuerten. Weiter schrieben sie: „Das aktuelle Ansehen von Bundeskanzler Olaf Scholz ist stark mit der Ampel-Koalition verknüpft. Mit einigem Abstand werden seine Arbeit und seine Entscheidungen für unser Land mit Sicherheit weitaus positiver beurteilt werden.“ Das klingt wie ein Abgesang auf den Bundeskanzler. Und Ironie der Ereignisse: Am Samstag, 23. November, kommt Boris Pistorius ins Sauerland. Eingeladen hat den Verteidigungsminister und Vielleicht-doch-Kanzlerkandidaten vor längerer Zeit ein Politiker namens Dirk Wiese...
Stimmen aus der Region:
Die Scholz-Befürworter
„Wir haben einen Kanzlerkandidaten. Wenn eine andere Person antreten möchte, dann soll sie aufstehen und sagen: ‚Ich kandidiere‘. Alles andere finde ich unredlich.““
Nezahat Baradari, Bundestagsabgeordnete für den Märkischen Kreis und den Kreis Olpe, kritisiert den Streit in der Partei an sich. „Nur, wenn wir zusammenhalten, können wir gewinnen. Die Bürgerinnen und Bürger wählen keine zerstrittene Partei, die sich selbst zerfleischt“, sagt die 59-Jährige. Dennoch schlägt sie sich auf die Seite von Olaf Scholz: „Wir haben einen Kanzlerkandidaten. Wenn eine andere Person antreten möchte, dann soll sie aufstehen und sagen: ‚Ich kandidiere‘. Alles andere finde ich unredlich.“ Auch inhaltlich steht sie in einer wichtigen Frage, die die SPD bewegt, hinter dem aktuellen Kanzler: „Olaf Scholz hat sich klar gegen eine Taurus-Lieferung an die Ukraine ausgesprochen. Würde Boris Pistorius liefern? Wollen wir uns wirklich so in diesen Krieg hineinziehen lassen.“
„Wenn Boris Pistorius Kanzlerkandidat werden sollte, wird es in meinem Parteiumfeld viele Austritte geben.“
Der Hagener René Röspel hat seit drei Jahren den Blick des ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten (1998-2021): Röspel begrüßt grundsätzlich, dass es heute auch in der Bundestagsfraktion offene Debatten gibt. Das sei früher so nicht möglich gewesen. „Ich hätte unter Herbert Wehner kein Fraktionsmitglied sein wollen“, sagt Röspel. Allerdings laufe die Debatte in eine aus seiner Sicht falsche Richtung. „Wenn Boris Pistorius Kanzlerkandidat werden sollte, wird es in meinem Parteiumfeld viele Austritte geben.“ Pistorius stehe für Kriegstüchtigkeit. Viele in der SPD seien froh über den relativ zurückhaltenden Kurs von Kanzler Olaf Scholz in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Zudem dürfe man sich nicht von Umfragen täuschen lassen. Der eher konservative Peer Steinbrück hatte seinerzeit ebenfalls gute Umfragewerte, gewählt worden sei er aber von Konservativen dann nicht. „Ich glaube, dass Boris Pistorius ein besseres Ergebnis für die SPD erzielen würde, ist ein Irrtum.“
„Ich glaube, dass es immer noch wichtig ist, mit Scholz als Amtsinhaber, der auch positive Aspekte herausstellen kann, in einen Wahlkampf zu ziehen.“
Röspel greift damit genau das auf, was sich auch Julian Maletz während der gesamten Debatte rund um die SPD gedacht hat. Der 28-Jährige ist Vorsitzender der SPD-Kreistagsfraktion in Siegen-Wittgenstein. Bis 2022 war er dort im Vorstand der Jusos. Auslöser für seinen Beitritt 2013 war damals der Wahlkampf von Peer Steinbrück mit den Themen Lohngerechtigkeit, Rente und der Sozialstaat. „Steinbrück war damals beliebt wegen seiner vorherigen Arbeit als Finanzminister und hat trotzdem keine Wahl gewonnen. Wir hatten den Martin-Schulz-Hype, der auch sehr schnell abgeflacht ist“, so Maletz. Boris Pistorius habe sich seiner Meinung nach die Reputation in der Bevölkerung verdient und erarbeitet. Aber, er findet: „Man darf von persönlichen Umfragewerten in der Bevölkerung nicht immer darauf schließen, dass sich direkt die Werte einer Partei verbessern.“
Viele Wählerinnen und Wähler seien seiner Wahrnehmung nach mit dem Gesamtkurs der SPD gerade nicht zufrieden. Eine Personalie würde daran nichts ändern. Das habe man auch bei der Präsidentschaftswahl in den USA beobachten können. „Da muss man gesamtparteilich den Schulterschluss suchen und mit einem Programm in den kurzen Wahlkampf gehen, wodurch man sich Zustimmung für die Partei als Ganzes und nicht für den Kanzler Olaf Scholz oder Boris Pistorius erhoffen kann“, sagt Maletz. Der 28-Jährige war immer ein Unterstützer von Olaf Scholz. „Mich hat sein Wahlprogramm 2021 und das Vorangehen mit dem Thema Respekt sehr überzeugt. Ich glaube, dass es immer noch wichtig ist, mit Scholz als Amtsinhaber, der auch positive Aspekte herausstellen kann, in einen Wahlkampf zu ziehen“, resümiert Maletz.
Der Pistorius-Befürworter
„Boris Pistorius bringt uns zurück ins Spiel. Er hat das Potenzial für ein offenes Duell mit dem CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz.“
Hört sich der amtierende Hagener Bundestagsabgeordnete Timo Schisanowski an der Basis in seiner Heimatstadt und im südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis um, „dann ist es schon eindeutig pro Boris Pistorius“, versichert der 43-Jährige, der sich auch klar pro Verteidigungsminister positioniert: „Meine Zustimmung hätte er.“ Für Pistorius spreche seine Beliebtheit, die, anders als bei Martin Schulz, kein Strohfeuer sei, sondern bereits über einen langen Zeitraum anhalte und die Bürgerinnen und Bürger nachhaltig überzeuge. Und darauf kommt es vielen in der SPD wohl an, schließlich geht es bei einer Wahl um Prozente und Sitze im Parlament. „Boris Pistorius bringt uns zurück ins Spiel. Er hat das Potenzial für ein offenes Duell mit dem CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz.“
Die Vorsichtigen
„Das Grummeln im Land ist ja nicht zu überhören.“
Vorsichtig äußert sich Luiza Licina-Bode , SPD-Bundestagsabgeordnete für Siegen-Wittgenstein. „Das Grummeln im Land ist ja nicht zu überhören. Ich gehe aber davon aus, dass unsere Parteispitze und die Partei am Ende eine verantwortungsvolle Entscheidung treffen werden“, sagt sie. Sowohl Scholz als auch Pistorius seien gute Kandidaten. Aber: „Olaf Scholz ist unser Bundeskanzler.“ Licina-Bode spricht sich gegen eine Personaldebatte aus.
„Von zentraler Bedeutung ist, dass diese Frage schnell geklärt wird. Wir haben in Deutschland genug andere Probleme. Das kann nicht bis Weihnachten warten.“
Bettina Lugk, die SPD-Abgeordnete im Märkischen Kreis ist, hat an der Basis Eindrücke gesammelt: „Ich habe in den vergangenen Wochen mit vielen Bürgerinnen und Bürgern gesprochen: Dort sind die Sympathiewerte für Pistorius höher als für Scholz“, sagt sie. Mit Pistorius habe die SPD größere Chancen bei der Bundestagswahl, höre sie von der Parteibasis. „Von zentraler Bedeutung ist, dass diese Frage schnell geklärt wird. Wir haben in Deutschland genug andere Probleme. Das kann nicht bis Weihnachten warten.“
„Das ist ja auf eine Art und Weise auch eine Luxussituation, zwei so gute Kandidaten zu haben, die theoretisch frei zur Verfügung stünden.“
Rouven Soyka, Ortsvereinsvorsitzender der SPD in Bad Berleburg, will sich auf keine Seite stellen. Er vertraue in die SPD-Führungsetage, die Entscheidung zu treffen, die für die Partei die richtige ist. Sowohl Scholz als auch Pistorius leisten seiner Meinung nach gute Arbeit. „Das ist ja auf eine Art und Weise auch eine Luxussituation, zwei so gute Kandidaten zu haben, die theoretisch frei zur Verfügung stünden. Beide haben gezeigt, dass sie es können und dass beide konsequent sein können, wenn es hart auf hart kommt“, so Soyka.
Der eine sei charismatischer, der andere etwas ruhiger. Beides brauche es, um eine gute Politik zu machen, gerade jetzt in so unruhigen Zeiten. Egal ob Pistorius tatsächlich als Kanzlerkandidat antrete oder nur als Zugpferd für die Partei agiere: „Einfach nur propagandistisch, kurzfristig einen neuen Kandidaten aufzustellen, in der Hoffnung, dass kurzfristig ein paar Prozente nach oben steigen, macht keine Sinn“, sagt Soyka.