Hagen. Zu wenig Futter, zu viele Gefahren: Der Igel steht mittlerweile auf der Roten Liste. Sichtbar wird das bei Nicole Hielscher in Eslohe.

Der letzte Notruf kam heute Morgen rein: tagaktiver Igel in Sundern aufgefunden. Das ist problematisch genug, denn die Tiere verschlafen den Tag für gewöhnlich, nur Hunger hält sie oft davon ab. Ebenfalls beunruhigend in dem Fall: Das Tier ist nur 460 Gramm schwer. Der Notruf geht bei Nicole Hielscher in Eslohe ein. Sie hat mit der Wildtierhilfe Sauerland e.V, eine der wenigen Auffangstationen für Igel in Südwestfalen. Bis zu 30 Igel bringt sie normalerweise über den Winter. In diesem Jahr aber sei alles viel komplizierter – und viel schlimmer.

Der Igel ist in Not. Er steht seit wenigen Tagen auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN als potenziell bedrohte Art. Ein Indiz dafür, dass der Klimawandel und das Artensterben nicht nur exotische Regenwälder und weit entfernte Korallenriffe betreffen, sondern auch vor Ort sichtbar wird. Nicht nur in Städten, sondern auch auf dem Land, im Sauerland, bei Nicole Hielscher vor allem. Und gerade jetzt kann die Esloherin nicht, wie sie wollen würde.

85 Anrufe binnen sechs Wochen

85 Anrufe in den vergangenen sechs Wochen seien es gewesen, sagt sie, immer sei es um in Not geratene Igel gegangen. Die 53-Jährige hat verschiedene WhatsApp-Gruppen, in die sie dann hineinfragt: Hat noch jemand Platz? In Hamm, Soest, Werl, Iserlohn, Schwerte kennt sie Leute, die die Tiere aufnehmen. Zehn, maximal 15 Igel jeweils. „Die Stationen sind alle dicht“, sagt sie. „Warendorf ist auch dicht.“ Das kränkelnde Tier aus Sundern konnte sie nun noch in Menden unterbringen.

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Sie hat sich den Tieren verschrieben, nimmt Hasen, Bilche, Eichhörnchen und eben Igel auf. Doch die meterlangen Gehege, die sie im Garten stehen hat, müssen jetzt erneuert werden. Ihr Mann baut sie nach der Arbeit. In diesem Winter also kann Nicole Hielscher keine Tiere aufnehmen. Doch ihre Telefonnummer ist die, die man im Internet findet, wenn man Igel findet. Auf ihrem Telefon ist abzulesen, wie schlecht es den Igeln geht, die früher wie selbstverständlich da waren und nun immer mehr in Schwierigkeiten geraten. „Seit fünf Jahren wird das mit den Igeln immer schlimmer“, sagt Nicole Hielscher, die sich seit 1990 um die heimischen Wildtiere kümmert.

Experte: Igeln geht es bei uns nicht gut

Den Eindruck von Nicole Hielscher kann Michael Frede bestätigen. Er ist seit Jahrzehnten wissenschaftlicher Mitarbeiter der Biologischen Station Siegen-Wittgenstein, hat also schon lange einen professionellen Blick auf die heimische Flora und Fauna. „Bei uns geht es dem Igel nicht gut“, sagt er. Dabei gehöre der Igel zur heimischen Natur: „Er ist eine bei uns seit Jahrhunderten angestammte Art.“

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Man führe zwar keine Bestandserfassung durch, daher gebe es keine exakten Daten zur Igelpopulation in der Region. Doch es gebe ein sehr unschönes Zeichen, an dem man ablesen könne, dass es immer wenige Igel gebe: „Wann haben Sie das letzte Mal einen überfahrenen Igel gesehen?“, fragt Michael Frede provokant. „Das klingt makaber, aber wenn Sie von ein paar Jahren im Sommer übers Land gefahren sind, dann haben Sie ganz oft tote Igel auf der Straße gesehen. Das ist heute nicht mehr der Fall und ein Zeichen, wie wenige Igel es nur noch gibt.“

Kopfbild Michael Frede - Biologische Station Siegen-Wittgenstein - wissenschaftlicher Mitarbeiter

„Das klingt makaber, aber wenn sie von ein paar Jahren im Sommer übers Land gefahren sind, dann haben sie ganz oft tote Igel auf der Straße gesehen.“

Michael Frede

Woran das liegt? „Wir lassen Igeln einfach nicht genug Raum“, sagt der Experte der Biologischen Station. Die Landschaft werde auch weiterhin zersiedelt, es gebe mehr Bebauung, mehr Straßen und mehr Autos - auch auf dem Land und trotz aller Umweltschutzbemühungen. Und auch, wenn heute vielerorts Wert auf mehr Grün gelegt werde, profitiere der Igel nicht automatisch davon, im Gegenteil: „Schauen Sie sich mal die Gärten an, sie werden immer gepflegter. Richtige Nutzgärten, in denen Lebensmittel angebaut werden, werden immer seltener“, sagt Michael Frede. „Die bescheren auch mehr Arbeit und Zeit, die viele heute nicht mehr haben.“ Aber einem Igel böten die Nutzgärten viel Nahrung und Rückzugsräume, wenn es auch Haufen mit Gartenschnitt oder Ähnlichem gebe, wenn nicht alles so aufgeräumt sei.

Nicole Hielscher, Wildtierhilfe Sauerland in Eslohe

„ Bei jedem Anruf blutet mir das Herz.“

Nicole Hielscher

Dass es weniger Nahrung für Igel gebe, sehe man auch daran, dass es immer weniger Insekten gebe. Dies könne man ebenso bei einer Autofahrt übers Land im Sommer sehen: „Man hat weniger tote Insekten auf der Windschutzscheibe.“ Und einen weiteren Grund gebe es, der der ohnehin schwindenden Igel-Population das Leben noch schwere mache: der vermehrte Einsatz von Mährobotern. Igel sind keine Fluchttiere, sondern rollen sich zusammen. „Die töten die Igel meist nicht direkt, können aber zu schweren Verletzungen“, sagt Michael Frede.

Rückgang um bis zu 50 Prozent

Die Zahl der westeuropäischen Igel geht nach Angaben der Weltnaturschutzunion (IUCN) stark zurück. Sie hat den Winterschläfer in ihrer Roten Liste der bedrohten Arten erstmals als „potenziell gefährdet“ eingestuft. Der westeuropäische Igel (Erinaceus europaeus) kommt unter anderem in Deutschland und Österreich, den Benelux-Ländern, Skandinavien und Großbritannien vor. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre sei die Anzahl nach Schätzungen je nach Land um zwischen 16 und 33 Prozent zurückgegangen. Im Flandern in Belgien und in Bayern sei es ein Rückgang um 50 Prozent gewesen. Gesicherte Angaben über die Gesamtzahl der Igel gibt es nicht. Igel bekommen in der Regel nur einmal pro Jahr Nachwuchs. dpa

Was also tun, wenn man in dieser Jahreszeit einen Igel findet, der augenscheinlich zu klein oder schwach ist, um über den Winter zu kommen. „Vor ein paar Jahren habe ich noch gesagt, es ist viel wichtiger, generell den Lebensraum für Igel zu verbessern, als einen einzelnen Igel zu retten“, sagt Michael Frede. „Mittlerweile sehe ich das anders, weil es nur noch so wenig Igel gibt. Jeden Igel, den man findet, sollte man auch versuchen, zu retten.“ Er rät, immer Experten zu Rate zu ziehen, die bei den Naturschutzbehörden registriert und im Internet zu finden seien. Oftmals seien es Privatpersonen, die sich entsprechende Expertise angeeignet hätten.

Jetzt ist die schlimmste Jahreszeit

Engagierte Privatleute wie Nicole Hielscher von der Wildtierhilfe Sauerland in Eslohe. Weniger als 200 Gramm wögen manche Igel, die ihr auch in diesem Winter schon gebracht worden seien. 600 Gramm wären normal. Manche nimmt sie derzeit zumindest kurzzeitig bei sich in der Blockhütte im Garten auf, ehe sie sie weitervermittelt. Jetzt sei die schlimmste Jahreszeit: Die Jungtiere kommen im September zur Welt und werden von der Mutter gepäppelt. Nach einigen Wochen sind sie auf sich allein gestellt – und finden keine Nahrung. In der Not fressen sie dann Tiere, die Krankheiten übertragen. Auch diese Tiere werden Nicole Hielscher angeliefert.

Für sie ist das alles andere als ein Spaß. Früher, sagt sie, habe sie in der Pflege gearbeitet. Sie litt unter Rheuma und ihr sei gekündigt worden. Seitdem hat sie sich den Tieren noch mehr verschrieben. Einen längeren Urlaub mit ihrer Familie (vier Kinder, zwei davon schon erwachsen) habe sie zuletzt 2017 gemacht. Sie wolle und könne nicht so lang von den Tieren in Not fernbleiben. „Ich habe ja auch niemanden, der mich ersetzt“, sagt sie. Deshalb habe sie das Handy auch immer angeschaltet, ob im Urlaub, am Feiertag oder am Wochenende.

„Es schmerzt mich, zu sehen, was mit dem Igel passiert“, sagt sie. Lediglich durch Spenden trage sich der Verein, am Ende des Jahres hielten sich Einnahmen und Ausgaben in etwa die Waage. Den abgemagerten Igelchen gibt sie normalerweise das Fläschchen, damit sie an Gewicht zunehmen. Dann bietet sie ihnen ein Zuhause für den Winterschlaf, ehe sie sie im Frühjahr in die Natur entlässt. In diesem Jahr kann sie nicht selbst aktiv werden. „Bei jedem Anruf“, sagt sie, „blutet mir das Herz.“

So baut man eine Igelburg

Igel sind jetzt unterwegs, um sich auf die kalte Jahreszeit vorzubereiten. Dabei können wir sie unterstützen, sagt Eva Lindenschmidt, Diplom-Biologin und Wildtierexpertin bei der Tierschutzstiftung Vier Pfoten. Zum Beispiel mit einem selbst gebauten Winterquartier. Idealerweise errichtet man die Igelburg auf etwas erhöhtem Terrain unter Sträuchern - auf keinen Fall in einer Senke, denn dort kann sich Wasser sammeln. Und so geht‘s:

- Den Boden mit Steinen, Sand oder Holzbrettern auslegen.
- Die Fläche mit etwas trockenem Laub bedecken. Keine Sorge: Der Igel wird später selbst nachbessern und die - Behausung mit weiteren Materialien auspolstern.
- Darauf nun eine etwa kniehohe Kuppel aus stabilen Ästen bauen - sodass ein Hohlraum entsteht.
- Auf dieses Grundgerüst nun weitere, dünnere Äste legen.
- Das Ganze mit einer dicken Schicht Laub bedecken.
- Zum Schluss noch einige dünnere und dickere Äste darüber schichten. So kann das Laub nicht wegwehen.
- Nicht vergessen: Einen kleinen Zugang für den Igel freilassen.
- Das fertige Quartier hat idealerweise eine Grundfläche von etwa 1,5 mal 1,5 Meter und ist etwa einen Meter hoch. 

Wer den Igel auch bei der Nahrungssuche unterstützen will, kann übrigens noch eine Futterstelle einrichten. Als Futter eignen sich etwa Nassfutter für Katzen oder Hunde, angebratenes, ungewürztes Hackfleisch oder Rührei. Wichtig ist, dass man die Futterstelle vor Katzen schützt - ideal wäre etwa ein Igelfutterhaus mit verwinkeltem Eingang, wie man sie im Handel findet. Das sollte aber sauber gehalten werden, um die Verbreitung von Krankheiten zu vermeiden, so Lindenschmidt. dpa